Erwartungen. Weshalb soll man sie nicht haben? Und doch: die schönsten Erlebnisse kommen einfach. Wenn man sie kommen lässt. Sie rauschen heran wie eine Welle am Strand. Die Welle erfasst dich mit ihrer kühlenden Erfrischung. Sie wirbelt den Sand unter deinen Füßen durcheinander. Du strauchelst, fällst vielleicht. Doch du lachst dabei. Weil alles so unglaublich schön ist. Leicht. Ein wenig anders. Und jede Sekunde will erinnert sein.
Ahmad Mesgarha kommt freudestrahlend auf mich zu. Er trägt einen Fahrradhelm, stellt ein paar Tüten und Taschen neben uns und umarmt mich. Da habe ich ihm bereits ein gesundes neues Jahr gewünscht. Nach den Alten Meistern am Montag. Meiner sechzehnten Vorstellung. Ahmad glaubte, es hätte doch mindestens schon die fünfundzwanzigste sein müssen. Ich entschuldige mich. Wir lachen. Schlagen uns das Du aber nicht vor. Denn dabei sind wir bereits. Es ist einfach so passiert. Einfach. So. Passiert. Wie diese Begegnung nach meiner sechzehnten Vorstellung.
Eigentlich war ich mal wieder allein da gewesen. Doch bei der Garderobe im Foyer hatte ich Daniel entdeckt, einen früheren Kommilitonen von mir. Er begrüßt mich mit meinem alten Namen und ich sage nur, “nicht mehr. Ich heiße jetzt Alexander.” Ich weiß nicht, ob Daniel wirklich überrascht ist, aber seine Freundin Anja macht demnächst was zu dem Thema, also ist das Thema zwischen uns gleich gefunden.
Klar, in den fünf verbliebenen Minuten vor der Vorstellung kann das nicht ausgiebig besprochen werden. Also setzen wir unser Gespräch danach fort. Erst im Foyer, ehe wir von dort still, aber bestimmt hinauskomplimentiert werden (das Licht wird langsam abgestellt). Dann geht es weiter vor die Eingangstür und schließlich noch ein Stück weiter nach draußen auf den Theaterplatz.
Wir reden also ein wenig, bis Ahmad plötzlich auch herauskommt, gemeinsam mit dem Souffleur. Ich verpasse zu erwähnen, dass ich ebenfalls beim Silvestersingen im Kleinen Haus gewesen bin. Weil Ahmad bereits rechnet. Das sei jetzt die fünfundsechzigste Vorstellung gewesen. Mindestens fünfundzwanzig Mal war ich doch bestimmt da. Ich enttäusche ihn ungern, gelobe aber Besserung.
Schließlich lässt Ahmad die vergangenen fünfundsechzig Vorstellungen Revue passieren. Frank Siebenschuh sei ein etwas natürlicherer Engländer gewesen, da er vom Film komme, nicht vom Theater. Auf ihn seien die Zuschauer mehr böse gewesen als auf Moritz Dürr.
Ein Zuschauer hätte sich mal auf die Sitzbank zu Albrecht Goette gesetzt, sei von dort nach langem Zureden wegkomplimentiert worden und hätte sich schließlich vor ein Gemälde gestellt. Dort hätte ihn Ahmad angespielt, doch er hätte sich nicht wegbewegt. Schließlich würden einige Zuschauer im ersten Saal das von ihm Gesagte kommentieren. Einer hätte Ahmad sogar mal in breitestem Sächsisch gefragt: “Hobsch Se ne letzde Woche in dor Maria Stuart gesähn?” Ahmad hätte kurz innehalten müssen, habe dann aber lediglich gedacht, ob der gute Mann nicht wüsste, dass Ahmad nicht privat da sei.
Überhaupt das Publikum! Das war heute ein durch und durch ungewöhnliches. Zum ersten Mal überhaupt habe ich erlebt, dass es im Foyer nicht im Pulk stand, sondern eine Schlange gebildet hatte. Auch sonst war es ein wenig träge gewesen. Die meisten trugen Bernhard-typisch Schwarz in Grau. Da fiel ich mit meinem Neonschal schon auf.
Nach einer Zigarette gab Ahmad schließlich zu, dass tatsächlich er es gewesen war, dessentwegen die Vorstellung am zweiundzwanzigsten Dezember hatte abgesagt werden müssen. Eine Magen-Darm-Geschichte. Sogleich bezichtigte ich ihn der Ansteckung. Denn auch ich war zu fraglicher Zeit ja krank gewesen.
So schloss sich der Kreis der offenen Fragen, denn die Zuschauerschlange hatte sich längst zum Pulk geformt und dann wieder aufgelöst. Während Ahmad seine Tüten und Taschen nahm und mit dem Fahrrad nach Hause fuhr. So wie auch ich wenig später. Nur etwas umnebelt.
© Alexander der Kleine / 2019