Und dann kam der Schnee

Jenseits der zehntausend Schritte hört das Denken auf. Dann besteht der Mensch nur noch aus Instinkt. Vorwärts. Immer vorwärts; einen Schritt vor den vorigen. Nur noch der Instinkt trägt ihn weiter. Sein Unterbewusstsein weiß, wo der Körper hin soll: nach Hause. Dort, wo ein Dach über dem Kopf ist. Dort, wo es warm ist. Dort, wo eine Toilette ist. Ein Waschbecken. Ein bisschen Obst. Eier für ein Omelett. Ein Teller und Besteck. Ein Sofa.

Zehntausend Schritte. Das ist eine Empfehlung. Zehntausend Schritte sollst du gehen. Täglich. Fünfstellig. Darunter ist es nicht effektiv. Und darüber kann man nicht mehr denken. Darüber setzt der Verstand aus. Dann trägt nur noch der Instinkt den Körper weiter.

Nach Hause. Zu Hause sein. Wie schön das ist, spürt der Körper, wenn er nach mehr als zehntausend Schritten dort angekommen ist. Wie er das geschafft hat, fragt sich der Verstand nach einer Weile. So ganz allein. Offenbar benötigt der Körper zum Heimkommen nur sich selbst. Der Verstand schwebt dann irgendwo. Oder er verkriecht sich. So genau weiß das der Verstand auch nicht. Hauptsache, er findet nach den mehr als zehntausend Schritten wieder in seinen Körper hinein. Und schlüpft nicht aus Versehen in einen anderen. Das wäre was!

Zehntausend Schritte sind heutzutage schnell gezählt. Das muss nicht der Verstand machen; das macht das Telefon. Oder ein Schrittzähler. Eine Fitnessuhr. Da kann sich der Verstand abschalten und der Körper sich auf sich selbst konzentrieren.

Nur funktionieren, ohne zu denken. Das wäre auch schön. Denn zum Verstand gehören die gedachten, die eingebildeten Gefühle, die unabhängig vom Körper entstehen. Vielleicht gibt es diese Empfehlung ja deshalb. Dann geht es gar nicht um die zehntausend Schritte, sondern um die Schwelle, die der Körper überschreitet. Die Schwelle, bei der sich der Körper vom Verstand trennt und ohne ihn wieder nach Hause zurückfindet.

Wie hat er das nur geschafft? Zehntausend Schritte gehen, und am Ende noch nach Hause finden? Da kann sich der Verstand schon mal selbst hinterfragen. Werde ich überhaupt noch gebraucht? Zählt denn nur noch der Körper und dessen Leistung?

Oder trennt sich an der Schwelle der Verstand vom Körper? Gerade, weil er der Schlauere von beiden ist und weiß, dass Nachdenken zu viel Energie verbraucht?

Wenn man ein bisschen trainiert ist, sind zehntausend Schritte selbstverständlich kein Problem. Im Frühling, ein wenig am Stadtrand entlang oder um einen See, bei frischem Wind um achtzehn Grad Celsius Lufttemperatur. Da macht das sogar Spaß. Und der Verstand muss sich auch nicht abschalten. Im Gegenteil: in der Bewegung und mit den vielen Eindrücken aus der Umgebung denkt er sogar intensiver, kommt auf neue Ideen – setzt sich ungeahnten Perspektiven aus.

Genau zehntausend Schritte zu gehen sind heutzutage auch nicht schwer. Die technischen Hilfsmittel rechnen das schließlich aus. Dann kommt der Körper Schlag zehntausendster Schritt zu Hause an, und der Verstand ist frisch und befreit. Weil er die Schwelle nicht vollständig überschreiten und den Körper nicht verlassen musste.

Nach zehntausend Schritten zu Hause ankommen, duschen, in bequeme Kleidung schlüpfen und die Ideen zu Papier bringen oder auf der Tastatur spielen. Das ist das Ideal.

Doch auch heute gibt es noch immer die andere Seite, auf der es nicht ideal zugeht. Auf dieser Seite gibt es kein Zuhause, und zehntausend Schritte sind lediglich ein Anfang. Auf dieser Seite sind zehntausend Schritte kein Vergnügen, sondern tägliche Notwendigkeit.

Vielleicht ist auch auf dieser Seite manchmal Frühling. Dann kann sich der Verstand ein wenig ablenken. Die Augen nehmen Bilder auf, die Nase Gerüche, das Ohr Geräusche, und der Verstand verarbeitet das alles mit den Bildern, die er bereits gesammelt hat.

Doch viel öfter ist auf dieser Seite Winter. Mit Kälte, Regen und Stürmen. Dann fühlen sich zehntausend Schritte an wie hunderttausend Schritte. Und wenn dazu noch der Schnee kommt, wird aus dem Marsch eine Odyssee. Weil alles ringsum nurmehr noch weiß ist. Das Bild vom warmen Zuhause hat der Verstand ganz tief in sein Innerstes vergraben. Er hat den Körper ohnehin längst verlassen und hofft darauf, irgendwann wieder zurückkehren zu können.

In sein warmes Zuhause. Nach viel mal zehntausend Schritten.


© Dominik Alexander / 2021

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© Mario K. (image)

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