Beinahe hätte ich den Ausstellungskatalog wieder zurückgelegt. Hätte ich es mal getan. Denn nun fühle ich mich schlecht.
Ich war mal wieder zu freundlich. Habe nichts gesagt, wo ich hätte etwas sagen sollen. Und wieso nicht? Ich hätte mich auf ein Gespräch einlassen müssen. Eine Diskussion. Weshalb scheue ich das? Setze ich mich deshalb dem Friedensrichteramt aus, um das zu lernen? Nein. Denn wenn es um Dinge geht, die mich nicht betreffen, scheue ich die Diskussion nicht.
Ich bin die ideale dritte Person. Der Zuhörer. Der Vermittler.
Ich kann zusammenführen und mache das gern. Aber ich bin ungern Auslöser für Zwiespalt, Unfrieden. Ich scheue die Konfrontation, entziehe mich ihr, wann immer ich ihr gewahr werde. Oft frage ich mich, weshalb Menschen nicht einfach in Frieden miteinander leben können. Doch das kann ja nicht funktionieren. In Frieden können Menschen nur aneinander vorbei leben. Dann lebte jeder Mensch nur mit und für sich. Jeder Mensch lebte nur in und für seine/r eigene/n kleine/n Welt.
Menschen sitzen hübsch in Reih und Glied hintereinander in zwei Reihen in einem alten Tatra-Bus, auf dem in ausgreifender 1970er-Jahre-Kursivschrift Elbflorenz steht. Einer steht vorne und erklärt: »Hier fahren wir am Hygiene-Museum vorbei.« Alle Köpfe kleben an der linken Fensterscheibe. Dann biegt der lachsfarbene Bus nach rechts ab und ist wieder verschwunden.
Wenig später brummt eine einmotorige Propellermaschine von links kommend über meinem Kopf hinweg. Zwei lachende Fahrradfahrer fahren rechts an mir vorbei. Vor mir rollt ein Skateboardfahrer aus meinem Blickfeld.
Der zweite Tag im Oktober ist ein sonniger. Ich sitze im Halbschatten und genieße es, für den Moment nikotinfreie Luft zu atmen.
Während ich vor mich hin assoziiere, schlummert Thomas Bernhard in meiner Fahrradtasche; Lektüre über ihn und sein kaum besprochenes lyrisches Werk. Die Lektüre ist entsprechend überschaubar.
Eigentlich sitze ich nur auf der Bank und schreibe vor mich hin, weil ich Zeit überbrücken will. Denn eigentlich bin ich mir noch nicht sicher, ob ich mir später ein Eis kaufen will oder nicht. Vorhin bin ich an der langen Menschenschlange vorbeigefahren, von der jeder Einzelne es nicht geschafft hat, sich der Verlockung zu widersetzen. Wenn ich mich später dagegen entscheide, wird es eine Entscheidung gegen diese Menschen sein, nicht gegen das Eis.
Meine bereits feststehende Entscheidung wird nochmals gestärkt, als eine blonde Frau rauchend an mir vorbeiläuft und damit die mich umgebende klare Luft für mich für einen Moment nicht mehr atembar macht.
So spüre ich dieselbe Abscheu wie zuvor im Museumsshop des Hygiene-Museums. Die Frau an der Kasse hatte nicht an der Kasse gestanden, sondern hing an ihrem Telefon. Sie führte ein Privatgespräch mit ihrer Cousine und ließ sich dabei unflätig aus über jemanden, der ungenannt blieb.
Wortgruppen fielen wie »dämliches Stadtfest« oder »dem müsste man eine Kartoffel in den Mund stecken und draufschlagen« oder auch »diese Schimpfworte sind eine Beleidigung für intelligente Menschen« und nicht zu vergessen »dann muss die Kultur eben zugrundegehen«.
Dann war das Telefonat beendet und sie rief gleich noch einen anderen Bekannten an, dem sie von eben geführtem Gespräch brühwarm berichtete.
Während ich in dem Ausstellungskatalog blätterte, hörte ich jedes Wort ihrer Ferngespräche wie Hintergrundmusik in einem Supermarkt. Ich verstand jedes Wort. Das ließ sich gar nicht vermeiden. War laut genug. Währenddessen ließ ich ein paar passende Sätze durch meinen Mund wandern. Einige von ihnen hätte ich ihr vor die Füße werfen können, als ich an der Kasse stand, um den Katalog zu bezahlen. Etwas zur Situation passendes in dem Sinne, als wie unpassend ich es empfunden hatte, Zeuge ihrer unflätigen Privatgespräche hatte sein zu müssen.
Ungefragt.
Dass es doch ihre Aufgabe sein sollte, dass Besucher des Museumsshops in ihm wohlfühlen, um wiederzukommen.
Als auch das zweite Privatgespräch angedauert hatte, wollte ich sie augenblicklich mit dem Nichtkauf des Katalogs ökonomisch bestrafen. Doch schließlich blieb ich, um mir sämtliche ihrer Privatgespräche bis zum Schluss anzuhören. Auch den Katalog habe ich ohne eine einzige Bemerkung gekauft. Womit ich mich damit gleich dreifach bestraft habe: akustisch, ökonomisch und psychisch.
Und nun sitze ich hier, draußen vor dem Hygiene-Museum auf einer Bank in der Sonne, um mir den Irrsinn von der Seele schreiben zu können.
Seit meinem Kauf habe ich den Katalog noch kein einziges Mal angeschaut. Das ist jetzt zehn Tage her. Tatsächlich steckt der Katalog noch immer eingeschweißt in seiner Folie.
© Dominik Alexander / 2021
