Warten am Fahrkartenschalter muss heutzutage nicht mehr sein. Ich hätte auch zum anonymen, wartebefreiten Automaten gehen können. Hätte mir so die fast eine Stunde Warten erspart – und mich um ein Schauspiel gebracht, das an Dramaturgie alles aufbot, was dem modernen Theater zu klischeebehaftet, zu sprunghaft, zu realitätsfremd wäre.
Es begann mit meinem Eintritt ins sogenannte Reisezentrum im Dresdner Hauptbahnhof. Gleich nach der verglasten Tür mit automatischer Öffnung steht rechterhand ein Automat, der bei Betätigung fortlaufende Nummern ausspuckt. Bereits hier muss ich mich zum ersten Mal entscheiden: Will ich etwas kaufen oder wünsche ich lediglich eine Beratung? An diesem Tag möchte ich ein sogenanntes »Katzensprungticket« der sächsischen Länderbahn Trilex erwerben. Also wähle ich die Kaufoption und erhalte ein schmuckloses Stück Papier mit der Nummer N1359, ausgedruckt 19 Uhr 01.
Welche Nummer ist denn gegenwärtig dran? Ein Blick auf die Leuchtanzeige an der Wand verrät mir: N1342. Ich schaue mich kurz um: hauptsächlich ältere Klientel. Das würde dauern, denn ältere Menschen warten nicht nur länger als jüngere, bis sie entnervt aufgeben. Sie kosten das Erlebnis am Schalter auch länger aus, wenn sie endlich an der Reihe sind.
Auch das Reisezentrum beherbergt jedoch eine Fotoausstellung. Also laufe ich zurück und schaue mir Streetphotography des Leipziger Fotografen Thomas Meinicke an. Die Momentaufnahmen der Ausstellung »Moving People« Menschen – Orte – Augenblicke sind in Marokko, Kuba, Vietnam, Kambodscha, Sri Lanka, Äthiopien und Hongkong entstanden. Zu sehen sind überwiegend bunte Straßen, Häuser und Menschen, letztere dem Fotografen meist freundlich begegnend. Die Ausstellung ist in die linke Hälfte des Reisezentrums drapiert. Die Aufsteller mit größtenteils zwei großformatigen Fotografien untereinander sind so platziert, dass Betrachter beim Betreten ganzheitlich in die bunte Welt eintauchen können.
Der krasse Kontrapunkt ereilt das Auge beim Wiedereintritt in die unmittelbare Realität: die graue, sitzende Rentnerschaft, Masken größtenteils unter den Nasen hängend, stumm vor sich hin starrend und darauf wartend, dass ihre Vorgänger die individuelle Schalterzeit irgendwann ausgekostet haben würden.
Nach zwei Rundgängen durch die zwar kurzweilige, jedoch umfänglich beschränkte Fotoausstellung »Moving People« habe ich auch davon genug. Eine weitere Beschäftigung muss her, um das Warten zu überbrücken und nicht zur verschwendeten Lebenszeit hinzufügen zu müssen. Normalerweise nehme ich mir für derartige Fälle stets ein Buch mit, doch das würde sich nicht lohnen, rede ich mir ein. Murphy würde vermutlich behaupten: Hätte ich das Buch zur Hand genommen, wäre es gewiss schnell gegangen. Doch ich setze darauf, dass vielleicht doch noch etwas interessantes geschieht. Tatsächlich sollte mich meine diesbezügliche Hoffnung nicht enttäuschen.
Ich wühlte mich gerade durch das Angebot an Zeitschriften, Streckenkarten und Fahrplanfaltblättern, als Nummer N1354 an der Leuchtanzeige erschien. Nur vage nahm ich wahr, dass sich daraufhin ein älteres Ehepaar zum freigewordenen Schalter bewegte. Doch schnell richtete sich meine Aufmerksamkeit vollständig auf die beiden – oder richtig: nur auf die Frau. Denn vom Mann hatte ich für die gesamte Zeit des Schauspiels kein einziges Wort gehört. Nicht einmal ein Räuspern oder Schniefen. Der Mann war lediglich schmückendes Beiwerk gewesen. Oder der nötige Taschenträger.
Die Frau wollte verreisen.
Und da sie das scheinbar zum ersten Mal mit dem Zug versuchen wollte, musste ihr jeder einzelne Schritt erklärt werden. Nicht, dass die Schalterdame das gewollt hätte – im Reisezentrum des Dresdner Hauptbahnhofs legt man eher Wert auf linguistischen Minimalismus – nein; die Frau selbst wollte die komplette Beratung, das volle Programm, das Rundumwohlfühlpaket ihres Schaltererlebnisses. Sie gab sich auch nicht mit einer Fahrt zufrieden, sondern entschied sich direkt für eine BahnCard. Eine BC50 sollte es sein. Wahrscheinlich ist das Kind weggezogen, will oder soll jedoch regelmäßig besucht werden. Vielleicht hat es auch etwas mit dem Mann zu tun. Soweit wollte sie diesbezüglich nicht ins Detail gehen. Was ich persönlich nachträglich bedauere.
Ihre sonstige Lebensgeschichte breitete sie jedoch genüsslich und ausschweifend aus. Und wollte entsprechende Erklärungen zu ihrer anstehenden Fahrt. Die BahnCard an sich wurde erklärt – welche Vorzüge und Nachteile, genaue Konditionen, wann lohnt sich das für mich?
Ja, nehme ich. Bekomme ich die BahnCard sofort?
Ja, also die vorläufige. Die richtige Scheckkarte erhalten Sie per Post in ihren Briefkasten.
Wie lange dauert das?
So circa drei Wochen.
Aber die BahnCard habe ich trotzdem schon jetzt?
Ja.
Die Fahrt kann ich also schon heute vergünstigt kaufen?
Ja.
Und die richtige Karte muss ich nicht hier abholen?
Nein. Die wird im Briefumschlag an Sie geschickt.
Wie lange dauert das?
Circa drei Wochen.
Gut. Dann nehme ich die jetzt.
Als sie das gesagt hatte, war ich erleichtert. Endlich wissen wir, wohin die Reise geht, um im Bild zu bleiben.
Ein Etappenziel ist erreicht. Die nächste Etappe hieß: Ausfüllen des Antragsformulars für die BahnCard.
Bereits bevor die beiden Herrschaften (beziehungsweise Frauschaft mit dienstbarem Anhang) vor den Schalter getreten waren, hatte ich mir eine gelbe Linie am Boden für stupides Hin- und Hergehen ausgewählt. Die Bodenfliesen waren etwa einen Schritt lang und breit, also quadratisch, so dass meine Schrittlänge vorgegeben war. Meine Laufstrecke war begrenzt auf wenige Meter, von der Rückseite des Nummernzettelautomaten einerseits, von zusammengedrängten Begrenzungspöllern direkt an der linken Hallenwand des Reisezentrums andererseits. An beiden Enden meiner Laufstrecke drehte ich mich ansatzlos auf dem rechten Bein um einhundertachtzig Grad, so dass ich die Strecke erneut abschreiten konnte.
So lief ich denn bereits hin und her, als das ältere Ehepaar (wofür ich es jedenfalls hielt) in die Verkaufsverhandlungen eintrat. Das zu erwähnen ist nicht unerheblich, denn meine Laufstrecke befand sich parallel zu beiden an diesem Abend geöffneten Schaltern, also nur wenige Meter vom Ehepaar entfernt. Ich verstand entsprechend jedes Wort. Zuweilen hätte es mich daher bei meinen jeweiligen Richtungswechseln beinahe aus der Bahn geworfen, wenn die ältere Dame eins uns andere Mal unfreiwillig komisch wurde.
Der Höhepunkt des an ungewöhnlichem Ort aufgeführten Theaterstücks war erreicht, als es darum ging, die Identität der Dame zu verifizieren. Der gesamte BahnCard-Antrag war bereits ausgefüllt, alles soweit fertig. Beinahe hatte ich die Luft angehalten, um die Meldung des Vollzugs gebührend würdigen zu können. Schließlich fehlten nur noch die harten Fakten – mit einem Blick auf den Personalausweis alle Zweifel ausgeräumt, alle Angaben bestätigt. Dann die Unterschrift. Und fertig.
Meine Nummer N1359 zitterte schon für mich gefühlt an der Anzeigetafel. Dann der entscheidende Blick der Bahnangestellten am Informationsschalter auf den Personalausweis. Schließlich die an sich schlichte Feststellung: Sie sind schon über fünfundsechzig.
Eine so einfache Aussage und doch der Höhepunkt und Wendepunkt des Stücks.
Denn sie ließ die stetig fortschreitende Zeit für einen Moment stillstehen. Das jedenfalls das Gefühl aller sonst Anwesenden und nur als Zuschauer Beteiligten, die in dieser Kunstpause gespannt auf die Antwort der Dame warteten.
Ja.
Und die Zeit lief weiter. Die Frage war nur: in welche Richtung?
Zeit zum Durchatmen. Sacken lassen. Eine weitere Kunstpause.
Schließlich: Dann gilt dieser Antrag nicht für Sie. Für Rentner gibt es ein extra Formular. Das ist neu ab April. Wollen Sie die BahnCard trotzdem?
Wird das denn günstiger?
Wir schauen mal. (Nur sie selbst schaute.) Ja.
Gut. Dann möchte ich die BahnCard.
Dann müssen wir den Antrag nochmal ausfüllen.
Gut.
In diesem Moment drehte meine Zeit durch. Ich schaute auf eine imaginierte große Wanduhr, deren Zeiger sich in atemberaubender Geschwindigkeit um sich selbst drehten. Gefühlt vergingen innerhalb von zwei Minuten zwei Wochen.
Durchatmen. Weitergehen. Auf der gelben Linie. Einhundertachtzig-Grad-Schwenk auf dem rechten Fuß. Und weitergehen. Einfach so tun, als würde ich innerlich gerade nicht durchdrehen. Denn was ich da vor meinem geistigen Auge gesehen hatte, war meine Lebensuhr, die gerade ablief.
Jetzt müssen Sie nur noch unterschreiben.
Ich hörte: »nur noch«. Bekam beinahe einen hysterischen Lachanfall.
Sie: »Muss ich mit Liselotte unterschreiben?«
Das brachte mich beinahe zu Boden.
Unterschreiben Sie so, wie Sie sonst auch unterschreiben.
Ich wollte schreien.
ES GENÜGT AUCH EIN KREUZ, IRGENDEIN KRAKEL, EIN FREIER STRICH IN DER LANDSCHAFT! SCHREIB MEINETWEGEN HORST!
Dieses retardierende Moment hätte es nun wirklich nicht mehr gebraucht. Aber das hat ein Schauspiel, ein Drama, nun mal sich. Und so schlimm, wie es ist: ab hier lässt sich das Ende bereits ahnen. Wenigstens das.
Immerhin ging es von da so steil nach unten, dass das Ende längst erreicht und Applaus kaum noch zu erwarten war.
Sie hat vermutlich mit Liselotte unterschrieben. Und ihren Nachnamen angefügt? Wenn nicht, könnte sie bei der Verwendung ihrer BahnCard nochmal ins Straucheln kommen. Aber das wäre schon ein anderes Drama und geht mich heute nichts mehr an.
Der Kauf meines Katzensprungtickets hat anschließend etwa zwei Minuten gedauert. Als ich das Reisezentrum verließ, war es 19 Uhr 55.
© Dominik Alexander / 2021