Die Bezeichnung Neutralitätsgesetz klingt so, als wäre darüber nächtelang debattiert worden. Schließlich hat man sich auf einen Begriff einigen können, der am wenigsten angreifbar schien, unauffällig daherkommt und vor allem nicht nach Verbot klingt, sondern eher nach einem guten Gebot.
Auch, dass Muslima in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen, wird meist als Gebot verstanden. Die als Schleier oder Verhüllung recht unspezifisch bezeichnete Sache ist sowohl im Koran als auch in den Hadithen derartig kurz und vage umschrieben, dass es darüber unzählige Auslegungen und immer wiederaufflammende Debatten gibt.
Was die Sache an sich in Deutschland nochmal erschwert, ist, dass die Demokratie davon lebt, dass sich jeder Bürger nicht nur in die Gesellschaft einbringen darf, sondern sich gleichzeitig in ihr wiederfinden soll. Daher besteht zwar in Deutschland Religionsfreiheit; andererseits soll sich auch niemand von der Regierung beeinflusst fühlen, weshalb Staat und Religion (theoretisch) getrennt sind. Aus letzterem folgt, dass, wer ein Staatsamt, z.B. als verbeamteter Lehrer, übernimmt, in seiner Religionsfreiheit eingeschränkt ist – jedenfalls an seinem Arbeitsplatz.
Ein Verbot verhüllt als Gebot
Weshalb das Berliner Neutralitätsgesetz (Gesetz/Rechtsgutachten Bock) letzte Woche pünktlich zu Beginn des kommenden Schuljahres mediale Wellen schlug, lag am Abschluss eines dreijährigen Marathons. Eine Muslima hatte geklagt, weil ein Vorstellungsgespräch innerhalb eines Bewerbungsverfahrens im öffentlichen Dienst nicht zu ihren Gunsten verlaufen war. Offenbar war sie hauptsächlich deshalb abgelehnt worden, weil sie auch beim Unterrichten ihr Kopftuch als religiöses Symbol nicht ablegen wollte.
Einmal davon abgesehen, dass in meinen unzähligen Absagen stets nur gleichlautende, nichtssagende Floskeln stehen, hat die Muslima für sich das vage Kopftuchgebot als feststehendes Gesetz des Islam ausgelegt. Es gibt viele Argumente gegen das Kopftuch (von Männern ersonnen, durchgesetzt und später noch strenger gedeutet; Sexualisierung der Frau; konservative Moralvorstellung; Patriarchat etc.). Dennoch hat das Bundesarbeitsgericht der Muslima am 27. August 2020 Recht gegeben und das Neutralitätsgebot als diskriminierend eingestuft. Weil sie wohl eine der wenigen erfolglosen Bewerberinnen ist, die tatsächlich eine Begründung dafür erhalten hat, weshalb sie nicht angestellt wurde, darf sich die Frau nun über 5.200 Euro Entschädigung freuen.
Tatsächlich ist das Berliner Neutralitätsgesetz weniger diskriminierend als entsprechende Gesetze in vorwiegend katholisch geprägten Bundesländern wie Bayern und Nordrhein-Westfalen, wo es christliche Ausnahmen gibt. Überraschenderweise gibt es die auch im sogenannten Neutralitätsgesetz. Denn wer sich den Wortlaut einmal in Ruhe durchliest, anstatt ohne wirkliche Kenntnis darüber lautstark zu wettern, stellt fest, dass religiöse Zeichen im Religionsunterricht gestattet sind. Wenn also lehrplangemäß über die Religion gesprochen wird, darf sie auch sichtbar sein. Sonst muss über sie – frei nach Ludwig Wittgenstein – geschwiegen werden.
Wie sinnvoll ist der Hidschāb / ḥiǧāb für muslimische Frauen in Deutschland?
Wie aber ist es üblicherweise mit Verboten? Genau; was der Mensch nicht darf, findet er besonders interessant. Vielleicht würden die Diskussionen über Religion nicht mehr derartig emotional geführt, wenn es wirkliche Religionsfreiheit gäbe und der Mensch nicht auf das Äußere seiner Mitmenschen fixiert wäre. Wenn das Wort mehr Bedeutung hätte als der Ton.
Vielleicht hat genau das Verbotene, Anrüchige, Anarchische des Islam in der deutschen Medien- und Politiklandschaft dafür gesorgt, dass so viele Pubertierende auf der Suche nach Abenteuer und Selbstfindung ins Gelobte Land zogen, um sich dem sogenannten IS anzuschließen.
Und es gibt noch einen weiteren Aspekt, der bei diesem Thema interessant zu sein scheint. Ursprünglich, im sechsten Jahrhundert nach Christus, mag die Verschleierung der Frau eine gute Sache gewesen sein, um sie beispielsweise vor Vergewaltigungen zu schützen. Hier darf nicht vergessen werden, dass im Nahen Osten auch Männer tuchartige Kopfbedeckungen tragen, als Sonnen- oder Windschutz oder weil sie zur traditionellen Kleidung gehören. Im Nahen Osten fällt eher derjenige auf, der seinen Kopf nicht mit einem Tuch bedeckt.
In Deutschland allerdings fällt die Muslima mit dem Hidschāb auf, weil sie hier zu einer Minderheit gehört. Eigentlich sollte die Verschleierung dazu dienen, die Frau für fremde Männer unattraktiv zu machen. Sie sollte sich auf der Straße sicher fühlen. Doch hier fällt jede Muslima auf; sie ist Anfeindungen ausgesetzt, und sie darf sich keineswegs sicher fühlen. Wenn der Koran die Verschleierung der Frau nicht eindeutig vorschreibt, weshalb tragen Muslima den Hidschāb in Deutschland?
© Dominik Alexander / 2020
Kolumne 666 besteht aus eben so vielen Worten. Dabei werden zwei Themen miteinander verwoben, die vordergründig kaum etwas miteinander zu tun haben. Ein Thema ist aus dem Pool an Schlagzeilen der vergangenen letzten Tage entnommen; das andere Thema entstammt meiner eigenen Biographie. Kolumne 666 ist ein serienhafter Kommentar zum Zeitgeschehen und soll zum Nachdenken mit anschließender Diskussion anregen; entweder hier oder im eigenen Bekanntenkreis.
