Lockdown [ˈlɔkdaʊ̯n] Lọck|down, engl. Subst. {m} Sg, der; -s
a) wortgemäße Übersetzung: lock = sperren, verriegeln, schließen; down = unten, nieder, herab; lockdown = Abschluss, Herunterfahren;
b) sinngemäße Bedeutungen: 1) (aus dem Amerikanischen) aus Sicherheitsgründen zeitweise vollständige Verriegelung eines Gebäudes, später ausgeweitet auch auf Stadtteile, Städte, Bundesstaaten; 2) (globale Übertragung) Abriegelung und Schließung öffentlichen, insbes. kulturellen Lebens, in Deutschland ab 02. November 2020 bis Ende dieses Monats namentlich: Gastronomiebetriebe, Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen; Theater, Opern, Konzerthäuser, Messen, Kinos; Freizeitparks, Anbieter von Freizeitaktivitäten, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen; Fitnessstudios, Schwimmbäder, Spaßbäder, Saunen, Thermen; Prostitutionsstätten, Bordelle; Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoostudios;
c) Sinnhaftigkeit: Ein Lockdown dient dazu, menschliche Kontakte gesellig-kultureller Art (z.T. unter Alkoholeinfluss) zu begrenzen, um Ansteckungsgefahren durch Viren (z.B. SARS-CoV-2) bestmöglich zu minimieren;
d) Gefahren: Aus einem Lockdown (sowohl zeitlich begrenzter, aber längerer, als auch zeitlich unbegrenzter, also unabsehbarer Dauer) können schwerwiegende Spätfolgen gesellschaftlicher Art resultieren, insbesondere: Vereinsamung, materielle Armut, geistige Abstumpfung, gesellschaftliche Verrohung, Arbeitsplatzverlust, Fremdenhass, Verschwörungsmythen, Demokratieverlust, Autokratie, Aufstände, Bürgerkrieg, Plünderungen, politische Morde, Selbsttötungen etc.
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Zeit: Sonntag, 01. November 2020, 19:30 Uhr;
Ort: Kneipe Barrakuhda in einer norddeutschen Stadt.
»Klar, werde ich mein Feierabendbier vermissen«, diktiert der Mann, der als Ulle zitiert werden möchte, mir bereitwillig und bereits etwas lallig in den Reporterblock. »Ich dachte, ihr macht mittlerweile alles digital; Stimmaufzeichnung und so.«
Er gestikuliert dabei ein bisschen wild und unspezifisch durch die Luft. Dann sind beide Hände wieder am Bierglas. Wobei nicht ganz klar ist, wer da eigentlich wen festhält.
»Das mag ich nicht sehr. Ich schreibe lieber mit der Hand; alte Schule«, erkläre ich Ulle. Außerdem schafft es Vertrauen. Das sage ich zwar nicht, sehe es jedoch in Ulles Augen. Er nickt; wir sind auf einer Wellenlänge. Sein rechter Arm zuckt minimal. Vielleicht wollte er mir freundschaftlich auf die Schulter klopfen. Besinnt sich aber im letzten Moment. Ist ja Corona.
»Das Barrakuhda ist meine Stammkneipe«, sagt Ulle. Ich nicke interessiert, tue so, als hätte er mir das nicht bereits dreimal gesagt.
»Weißt du, hier ist einfach immer jemand, mit dem ich reden kann. Und wenn ich einfach nur nach der Arbeit ein Bier trinken will und auf Reden keinen Bock habe, dann macht das sofort die Runde und ich hab meine Ruhe.«
Ulle ist ein angenehmer Zeitgenosse. Inhaltlich sagt er wenig. Trotzdem kann ich mich gut mit ihm unterhalten. Immer wieder betont er, dass er immer erst am Abend ins Barrakuhda geht, nach der Arbeit. Dass er wirklich einer geregelten Arbeit nachgeht, kann ich mir kaum vorstellen. Deshalb frage ich auch nicht, womit genau er sein Geld verdient.
Wie komme ich darauf, dass Ulles Brötchengeber das Jobcenter ist? Nun, seine Kleidung ist sauber. Er weiß sich auszudrücken. Und er ist gut informiert. Allerdings verraten ihn seine gute juristische Allgemeinbildung, vor allem rund um das Arbeitsrecht, und die vielen kleinen roten Äderchen rund um seine Nase.
Ulle ist Alkoholiker, wahrscheinlich seit Jahren. Jeden Abend ins Barrakuhda zu gehen, ist seine Art, die Krankheit in Schach zu halten: regelmäßig, aber nicht zu früh am Tag; nicht übermäßig allein zu Hause, sondern kontrolliert in der Öffentlichkeit.
Für meine Reportage zum morgen beginnenden Lockdown Light will ich mich noch mit ein paar anderen Gästen der kleinen gemütlichen Eckkneipe unterhalten. Als ich mich von Ulle verabschiede, verspreche ich, ihm kurz vor der Sperrstunde noch einen Drink auszugeben.
Zeit: Sonntag, 01. November 2020, 21:45 Uhr;
Ort: Kneipe Barrakuhda.
»Darf ich ehrlich sein, Kumpel?«, fragt mich Ulle und legt mir nun doch eine Hand auf die Schulter. Ich lasse ihn gewähren, obwohl mir seine Alkoholfahne durch meine eigene Gesichtsmaske hindurch streng entgegenschlägt. Ich hoffe einfach darauf, dass Ulle nicht infiziert ist. Und war nicht zu Beginn der Pandemie die Rede davon gewesen, dass das Virus Alkohol nicht verträgt? Dann sollte es um Ulle ohnehin einen großen Bogen machen. Außerdem stirbt die Hoffnung ohnehin ganz am Ende.
»Klar, Ulle«, ermutige ich meinen Kumpel. »Darf ich zuerst raten?«
Ulle nickt. So abrupt, dass er beinahe das Gleichgewicht verliert und droht, vom Stuhl zu fallen. Ich halte ihn fest. Mit beiden Händen an seinen Schultern. Warte, bis er wieder einen einigermaßen sicheren Sitz eingenommen hat. In seinem Fall bedeutet das: die Bierflasche auf dem Tresen fest umklammert.
»Du hättest nicht gedacht, dass ich dir wirklich ein Bier ausgebe, stimmt’s?«
Ulle strahlt übers ganze Gesicht, zeigt seine gelben Zähne und nickt. Diesmal etwas vorsichtiger als zuvor. Das Bier, an dem er sich festhält, ist ein alkoholfreies. Aber das merkt er in seinem Zustand nicht mehr.
»Du bist echt in Ordnung, Kumpel«, sagt Ulle schließlich. Trinkt einen Schluck Bier. Rülpst kurz. Und dann: »Weißt du was? Wenn das Barrakuhda wieder offen ist, lade ich dich ein. Abgemacht?«
»Abgemacht, Ulle.«
Zeit: Sonntag, 01. November 2020, 22:30 Uhr;
Ort: draußen am Gehsteig vor der Kneipe Barrakuhda.
Kurz nach zehn Uhr abends waren alle Stammgäste tröpfchenweise aus der Kneipe geschwankt. Alle hatten vorschriftsmäßig ihre Gesichtsmasken um den Kopf geschnallt. Ein paar wenige unter der Nase. Aber, mein Gott, was soll’s. Ich setzte weiterhin auf den Alkohol. Und die Hoffnung. Außerdem hatte ich mit ihnen keinen nahen Kontakt mehr.
Ein paar Worte wechselte ich noch mit der Wirtin, versuchte, ihr ein griffiges Resümee zu entlocken. So ein Satz mit Hoffnung drin. Stattdessen fragte sie:
»Sehen wir uns? Nach dem Lockdown?«
»Am selben Ort, zu gleicher Zeit?« fragte ich zurück.
Sie schmunzelte. Dann senkte sie ihren Blick auf den Tresen, wischte noch einmal feucht drüber, obwohl alles bereits klinisch sauber gewesen war.
»Würde mich freuen; bist ein prima Kerl.«
Bist ein prima Kerl. Sowas höre ich selten. Bei der Arbeit zählt nur, was ich abgebe, nicht, was ich bin. Diese Worte tun gut und rühren mein Herz. Weil ich spüre, dass sie vom Herzen kommen und ernst gemeint sind.
Ein paar Minuten später stehe ich draußen. Atme begierig die kühle Nachtluft ein. Nehme dann nochmal mein Notizbuch zur Hand und lehne mich an die Wand direkt neben der Kneipentür.
Während ich meine Notizen flüchtig durchsehe, Wichtiges markiere, Sinnhaftes unterstreiche, bleibe ich ab und zu an prägnanten Aussagen hängen.
»Das Barrakuhda ist mein Zuhause.« Heidi. (ohne wie)
»Hier kann ich so sein, wie ich bin.« Harti. (und so reden, wie ich mich fühle)
»Ein ganzer Monat nicht mehr hier; das wird hart.« Ulle. (nur noch Zuhause trinken)
Ich bin Journalist. Ein Kulturmensch. Gehe gern ins Theater. Ab und zu ins Kino. Kneipen wie das Barrakuhda habe ich bisher eher aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Wenn überhaupt.
Doch wenn ich mich jetzt zum letzten Mal in dieser Nacht nach dem Barrakuhda umsehe, mache ich das auch mit etwas Wehmut im Bauch.
Zeit: Dienstag, 17. November 2020, 08:15 Uhr;
Ort: bei der Kneipe Barrakuhda.
Jeden neuen Tag fällt es mir schwerer, zeitig genug aus dem Haus zu kommen. Geschweige denn aus dem Bett. Es ist nicht leicht, die eigene Relevanz aufrecht zu erhalten, wenn es nichts mehr gibt, worüber ich schreiben kann.
Notgedrungen versuche nun auch ich, Corona-Zahlen zu interpretieren, mich in Virologie einzulesen und in Sachen Impfstoff auf dem aktuellen Stand zu halten. Aber ich bin nun einmal Berichterstatter für Kultur und Gesellschaft. Was soll ich machen? Über all den täglich anderen Zahlen stumpfe auch ich langsam ab.
Um dem viralen Spinnennetz wenigstens punktuell zu entfliehen, ändere ich heute meine morgendliche Routine. Statt sofort das Laptop anzuwerfen, gehe ich ein Stück zum Bäcker. Das bedeutet: vernünftig waschen, rasieren, ordentliche Kleidung. Seit ein paar Tagen wieder einmal der frische Geruch noch warmer Brötchen. Wie schnell man etwas vergessen kann, ohne es zu vermissen. Ich erwische mich bei dem Gedanken, dass es mir mit dem Theater ebenso geht.
Dann weiter. Ein kleiner Umweg, damit ich noch ein paar mehr Eindrücke von meiner Stadt sammeln kann. Erst durch den Park: noch ein wenig gelbes Laub, an einer Stelle ein paar verfaulte Äpfel, an einer Ecke stinkt es nach einem verwesten Tier. Eine Zeitung liegt halb auf dem Gehsteig, halb auf der Straße und ist vom Regen der letzten Nächte völlig durchweicht.
Schließlich: die Brücke. Wieder beginnt es zu regnen. Ich laufe etwas schneller. Ein paar Mülltüten am Straßenrand, aufgerissen. Ein paar Krähen tanzen wild darauf herum. Ich, wenig später: Slalomlauf um ein paar Pflastersteine herum. Dann, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das Barrakuhda.
Ich blinzle durch den immer stärker auf mich niederprasselnden Regen zu der verschlossenen Eckkneipe hin. Meine, einen Menschen zu sehen. Erst da fällt mir auf, dass ich auf meinem Weg vom Bäcker bis hierher keinen einzigen Menschen gesehen habe.
Der Mensch vor dem Barrakuhda lehnt etwas zusammengesunken an der Eingangstür. Er oder sie hat mir den Rücken zugewandt, scheint durch die milchglasigen Fenster zu spähen. Da erst erkenne ich die Kleidung, rufe:
»Ulle!«
Der Mensch auf dem gegenüberliegenden Gehsteig zuckt sichtbar zusammen. Wie ein angeschossenes Tier. Wie bei einer Straftat ertappt, schaut er sich schnell nach allen Seiten um, zuletzt in meine Richtung. Ich winke ihm zu, will schon zu ihm gehen. Doch da fängt er bereits an zu rennen. Durch den Regen weg von mir.
Ich schaue ihm noch kurz hinterher, dann laufe ich in die entgegengesetzte Richtung, wieder nach Hause. Und frage mich dabei, ob Ulle mich erkannt hat; oder nicht.
Zeit: Dienstag, 01. Dezember 2020, 18:30 Uhr;
Ort: Kneipe Barrakuhda.
Vier Wochen ohne Kultur hat etwas mit mir gemacht. Zuerst habe ich die Theater vermisst. Dann nicht mehr. Dann habe ich gemerkt, dass ich sie nicht mehr vermisse. Hab mich schlecht gefühlt. Und jeden Abend mein Feierabendbier gebraucht.
Das trinke ich heute zum ersten Mal nach dem Lockdown im Barrakuhda. Geöffnet ab drei Uhr nachmittags, Sperrzeit ab neun Uhr abends.
Entsprechend sieht es im Inneren der Kneipe aus: übersichtlich. Nur zwei andere außer mir und der Wirtin sitzen an einem der weiter entfernten Tische und starren in ihre Smartphones. Zwei zittrige Leuchtpunkte in der Dunkelheit.
Ich schaue zurück zur Wirtin, als sie mir gerade mein zweites Bier hinstellt.
»Hast du Ulle heute schon gesehen?« frage ich sie.
Sie verneint knapp.
»Wir waren verabredet für den ersten Tag nach dem Lockdown. Heute. Selber Ort, gleiche Zeit. Naja, bin vielleicht etwas früh dran«, sage ich und versuche, die Wirtin anzulächeln.
Doch sie hat es gar nicht mehr gesehen, weil sie längst wieder in ihrer eigenen Welt ist. Physisch anwesend. Aber psychisch? Irgendwo bei noch zu zahlender Miete, Strom, Waren, sonstigen Fixkosten, Eigenbedarf.
Nach dem dritten Bier bin ich endlich in einem vage behaglichen Dämmerzustand angekommen. Ein viertes Bier noch, dann ist alles wieder gut. Oder scheint wenigstens so.
Bis neun Uhr bin ich noch im Barrakuhda geblieben.
Ulle ist nicht mehr gekommen.
© Dominik Alexander / 2020
