Sturmtiefe

Draußen ist doch immer nur Sturm. Wenn Jakob das sagte, wusste Esau, dass der Herbst nahe war. Dann wollte Jakob nicht mehr ans Meer. Die Wellen seien zu hoch. Schwimmen sei zu gefährlich. Und nur am Strand zu liegen, dafür müsse er doch nicht ans Meer. Anfangs hatte Esau seinen Freund nur ausgelacht. Ihn einen Feigling genannt. Doch als er ihn anschaute, wusste er, dass es ihm ernst war.

Draußen ist doch immer nur Sturm. Das hatte etwas zu bedeuten. Nicht nur, dass sich die Palmenblätter über der verfallenen Ruine wie in einem Stillleben aus Balletttänzerinnen in die Richtung des Windes legten. Nein. Es hatte auch etwas mit Jakob zu tun. Esau hatte ihn nie gefragt. Immer nur lange angesehen.

Manchmal, wenn man jemanden lange anschaut, geschah es, dass der andere diesen Blick im Nacken spürte. Etwas wurde unangenehm. Stille zwischen zwei Menschen lässt die anderen Sinne erwachen. Spannung. Nähe. Das Gefühl, etwas sagen zu müssen, je länger kein Wort gesprochen wird. Meistens war die Stille demjenigen unangenehmer, der etwas zu verbergen hatte.

Jakob war Stille nie unangenehm gewesen. Bevor er Esau getroffen hatte.

Draußen ist doch immer nur Sturm. Esau hatte stets darauf gewartet, dass Jakob noch mehr dazu sagte, als nur diesen einen Satz. Eine Feststellung. Ein einfacher Satz wie fallengelassen. Sollte er ihn aufsammeln und Wort für Wort ans Fenster werfen? Doch dafür war Jakob in zu entrückter Stimmung. Er stand einfach nur vor der Scheibe aus Glas, die ihr behagliches Wohnzimmer von dem kühlen Draußen trennte. Er stand da, flüsterte seinen Satz und berührte mit den Fingerspitzen der rechten Hand das Fenster neben seinem Kopf.

Draußen ist doch immer nur Sturm. Die weiße Gischt türmt sich bereits entfernt, aber sichtbar, am Horizont auf. Würde das Schiff noch kommen? Sie hätten es längst sehen müssen. Möwen zogen längst nicht mehr ihre forschenden Routen über dem Wasser entlang. Zu schwierig die Umstände des Herbstes für die Jagd. Dann lieber auf den nächsten Kutter warten, um ein paar kleine zappelnde Happen aus den Reusen zu stehlen.

Nein. Das Schiff war gewiss bereits bei Nacht angekommen. Lag im Hafen. Sicher vertäut. Jakob schloss seine Augen. Die Hand lag nun flächig auf der Fensterscheibe. So, als wolle er Kontakt mit dem Meer suchen, ohne aus der behaglichen Wärme heraustreten zu müssen.

Esau verschränkte die Arme vor seiner Brust und schaute seinen Freund wieder an. Er hatte sich unterdessen einen Kaffee geholt. Wie oft hatte er Jakob gefragt, ob er auch einen Kaffee wolle. Oder ein anderes Getränk. Und wie oft hatte Jakob abgelehnt. Immer öfter hatte er einfach gar nichts entgegnet. Jetzt war er bereits seit drei Tagen bei ihm. Und kein einziges Mal hatte Esau ihn gefragt.

Nicht nach Kaffee. Nicht nach seinem Weg hierher. Nicht nach seiner Überfahrt. Nicht nach dem Kind. Nicht nach Rebekka.

Draußen ist doch immer nur Sturm.

••••

»Bist du eigentlich mal wieder bei der Ruine gewesen?« fragte Jakob ins Blaue hinein, als er scheinbar wieder in diese Welt gefunden hatte. Doch sein Blick war noch immer aufs Meer gerichtet.

Esau hatte sich hinter ihm auf die braune Couch gesetzt. Noch immer hielt er die Tasse auf eine Art, als wolle er sich die Hände an ihr wärmen. Doch der Kaffee war längst kalt geworden. Bevor Esau antwortete, trank er einen Schluck.

»Ich hab’s nicht können«, murmelte er dann und sah Jakob seinen Blick senken.

»Vielleicht sollten wir gemeinsam gehen«, sagte er und drehte sich endlich zu seinem Freund um. »Vielleicht wird es dann leichter.«

»Ja, vielleicht«, sagte Esau, doch es klang so, als meinte er genau das Gegenteil.

••••

Auf eine lange Reise gehen. Mit einem Schiff ein Meer überqueren. Wegfahren. Ankommen. Abschied nehmen. Willkommen heißen. Aus dem Land jagen. Mit Angst und Hass begegnen.

Die Gründe für eine Reise über das Meer sind vielfältig. Geschieht sie mit einem Schiff, hat es selten etwas mit Urlaub zu tun. Außer bei einer Kreuzfahrt. Doch ist es nicht gleichermaßen heuchlerisch wie zynisch, eine touristische Spaßgesellschaft im Wortlaut mit den christlichen Kriegern der Kreuzzüge gleichzusetzen?

Wir können willkommen heißen. Wir können mit Angst begegnen. Oder wir können kennenlernen und danach urteilen.

Esau war nicht nach urteilen zumute. Er wollte Jakob nahe sein. So wie früher. Als sie noch gemeinsam im Meer schwimmen waren. Doch jetzt kam Jakob immer erst im Herbst und sagte, dass draußen doch immer nur Sturm sei.

»Draußen ist doch immer nur Sturm«, hörte Esau Jakob sagen, als beide sich ihre Schals, Mäntel und Mützen angezogen hatten.

Esau schaute Jakob kurz an, streifte seinen Blick und meinte, so etwas wie zugewandte Freundlichkeit in seinem Gesicht zu erkennen. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung? Wie sehr wollte Esau daran glauben.

••••

Wie stets war am Strand kein einziger Mensch. Nicht einmal ein erkennbares Lebewesen. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, die Mütze eng am Gesicht, liefen Jakob und Esau nebeneinander in Richtung der Ruine. Wie ein Leuchtturm stand sie auf der kleinen Anhöhe in sichtbarer Entfernung. Der schmutzige Sandstrand hatte die Farbe des Himmels angenommen. Beides war vom wellenbrechenden Meer kaum zu unterscheiden. Nur ein paar Schaumkronen hier und da verliehen dem Wasser eine ungewisse Tiefe, dem Horizont beinahe Struktur.

Der richtige Leuchtturm stand jenseits der Felsenkuppe, noch ein ganzes Stück weiter an der Küste entlang. Wenn in der Nacht die Luft klar war, konnte Esau von seiner Hütte aus den regelmäßig pulsierenden Lichtschein erkennen. Dann sah es aus, als würde die Luft atmen. Als wäre hier tatsächlich noch etwas am Leben.

Das richtige Leben gab es nur in dem Küstenstädtchen noch weit hinter dem Leuchtturm. Dort, wo hoffentlich das Schiff schon angekommen war. Mit Rebekka und dem Kind. Hatten sie sich endlich auf den Weg gemacht? Hatten sie es geschafft durch das tobende Meer?

Esau hätte so gerne mit Jakob darüber gesprochen. Doch über ihre Ängste zu reden, war ihre Sache nie gewesen. Überhaupt miteinander zu reden. Das hatte bisher immer nur zu Streit geführt. Zu schlechten Gefühlen. Zu immer weniger reden.

Irgendwann hatten sie eingesehen, dass es das beste sein würde, eigene Wege zu gehen. Jeder den Weg, der ihm zustand. Für Esau der Weg in die Einsamkeit. Für Jakob der andere.

»Draußen ist doch immer nur Sturm«, sagte Jakob in den Kragen seines Mantels hinein.

Und Esau fragte sich, weshalb ihn der Freund noch immer jedes Jahr im Herbst besuchte. Eigentlich war es mehr ein Heimsuchen. Esau fragte Jakob nicht, was er im vergangenen Jahr getan hatte; Jakob sagte Esau nicht, woher er gekommen war. Es war wie ein Ritual, ein wiederkehrender Kreislauf. Wie etwas Ruhe im Sturm des Herbstes.

Draußen ist doch immer nur Sturm. Längst hatte sich die Gischt mit Regen vermischt, der Horizont mit Meer und Wolken verwoben. Eine graue Umgebung, vor der sich die Mauerreste der Ruine nur mühsam abheben konnten. Von Esaus Hütte aus wäre sie nun gar nicht mehr zu sehen.

»Kommst du diesmal mit?« fragte Esau den Freund. Beide hatten den Strand bereits verlassen. Ihre schweren Wetterstiefel hinterließen tiefe Eindrücke in dem schmalen Pfad, der zur Anhöhe heraufführte.

»Ich denke nicht«, sagte Jakob und meinte es eigentlich bestimmter.

Esau hatte zwar nicht damit gerechnet, dass es diesmal anders sein würde. Dennoch war er enttäuscht. Weshalb kam Jakob noch immer jeden Herbst zu ihm nach draußen in die Einsamkeit, wenn er den Weg nicht bis zu Ende ging? Um ihn dann für immer in Ruhe zu lassen?

War das seine Art, bei ihm zu bleiben? Zu gehen; zu kommen – wieder zu gehen? Nie kommen, um zu bleiben. Immer nur kommen, um wieder zu gehen. Damit Esau auf ihn warten musste. Auf das Schiff. Auf Rebekka und das Kind.

Immer nur warten. Immer nur an diesem Ort sein, ohne weggehen zu können. Jakob war der, der gehen durfte. Esau musste bleiben, damit Jakob ihn in jedem Herbst wiederfinden konnte.

Draußen ist doch immer nur Sturm. Das stimmte. Und stimmte nicht. Schrödingers Spiel, dessen Esau längst überdrüssig war.

Draußen ist doch immer nur Sturm. Das waren die Worte, die Jakob stets zu ihm sagte, wenn er gedankenversunken vor dem Fenster stand, nach draußen schaute und auf das Schiff wartete. Es kam ja nie. Doch wer konnte wissen, dass es im nächsten Jahr wieder so sein würde. Vielleicht kam es noch. Nächstes Jahr vielleicht. Im Herbst.

Da, durch den Sturm, durch die tobenden Wogen kämpfte sich etwas in Richtung Küste. Waren das Segel? Ein Rumpf? Waren dort Menschen auf einem Schiff, das über das Meer kam? In diesem Sturm!

Doch auch heute war dort nichts. Der Horizont blieb leer und war gar nicht mehr zu erkennen.

••••

Wie in jedem Jahr seit so vielen Jahren ging Esau das letzte Stück allein. Jakob war längst zurückgeblieben, und Esau drehte sich nicht nach ihm um. Wie in jedem Jahr fühlte sich dieses letzte Wegstück gleichermaßen leicht und schwer. Leicht, weil er allein gehen konnte; weil er seine Tränen nicht mehr verbergen musste. Schwer, weil es wie jedes Jahr für ihn keine Stütze gab.

Das Tor war nur angelehnt, ließ sich jedoch nur schwer öffnen. Von Jahr zu Jahr ging es schwerer. War es der Rost in den Scharnieren? War es Esaus fortschreitendes Alter? Er machte sich darüber keine Gedanken, sondern drückte das Tor gerade so weit auf, dass er ins Innere gelangen konnte.

Das Innere: die Ruine einer Kirche, umgeben von einer mannshohen Steinmauer, verschlossen nur vom nicht-verschlossenen Tor. Zwischen Ruine und Mauer standen in nicht zu ergründender Ordnung Grabeskreuze, einige schief, andere verwittert; je nach verwendetem Material.

Esau lief nach links, immer nah an der Mauer entlang, bis er beinahe im Rücken der Ruine angekommen war. Der Sturm war hier nicht so stark, so dass der Geruch des Meeres beinahe etwas vertrautes annahm.

Über Esaus Blick legte sich ein Schleier, dabei hatte er den Stein vor ihm noch gar nicht richtig angeschaut. Er zog die Mütze vom Kopf und wischte sich damit die Augen klar. Schlug sie wieder auf und begann die Buchstaben auf dem Stein zu lesen:

Rebekka Gilehad
Ela Gilehad
Esau Gilehad

••••

Draußen ist doch immer nur Sturm
Langsam verwelken die tiefen Gedanken
Ein Schiff wird kommen
Dort am dunkelgrauen Horizont
Kannst du es sehen, Rebekka?

Draußen ist doch immer nur Sturm
Ich bleibe bei dir jede letzte Nacht
Sie werden uns finden
Wenn die Sonne uns grüßt
Glaubst du mir, kleine Ela?

Draußen ist doch immer nur Sturm
Die Wellen verschlingen die Hoffnung
Im Herbst vor vielen Jahren
Bei Sturmtiefe am Strand
Wolltest du nicht mehr gehen, Esau.


© Dominik Alexander / 2020

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© Free-Photos (image)

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