7. November 2020, Vormittag
Das Rauschen des Regens und der vielen Menschenstimmen schmerzte in ihren Ohren. Die Helligkeit blendete sie. Dabei war die Sonne kurz zuvor noch von schweren Wolken bedeckt gewesen, die sich gerade über ihr ausgeregnet hatten. Gerade noch war sie mit geschlossenen Augen und geöffnetem Mund dem Himmel begegnet, hatte das Wasser genossen, es begierig in sich aufgenommen.
Doch der Moment war nur ein Moment. Der Regen ließ nach. Einzelne Sonnenstrahlen brannten Löcher in die Wolkendecke. Kein Regen mehr, und die plötzliche Luftfeuchtigkeit lag schwer auf ihrem nassen Haar.
»Was machen wir mit ihr?« fragte Guardia Rojas und rieb sich dabei seinen Nacken. Comisario Inyan Flores, der neben ihm stand, hatte die junge Frau nicht aus den Augen gelassen, seit er hier angekommen war. Sein Kollege aus dem Hochland hatte ihr die Arme hinter dem Rücken mit Kabelbinder fixiert, und er hatte sich bereits bei seinem Eintreffen am Auffindeort gefragt, ob das wirklich nötig gewesen war.
Comisario Flores schätzte gute, kollegiale Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Er begegnete jedem Menschen, den er kennenlernte, mit Respekt. Erst, wenn jemand seine Wertschätzung missbrauchte, ließ er den anderen wissen, was er von ihm hielt. Erst zuletzt verwies er auf seine Autorität und seinen Rang, sollte das erforderlich sein.
Guardia Rojas hatte gewiss Gründe gehabt, die junge Frau auf diese Weise festzuhalten, auch wenn sich ihm Grund und Sinn gegenwärtig noch verschlossen.
»Wir bringen sie nach Tarma,« sagte Comisario Flores und schaute seinen Kollegen dabei direkt an. »Dort sagt sie uns hoffentlich, was geschehen ist.«
»Sie hat gesagt, sie könne sich an nichts erinnern.«
»Das mag sein,« sagte Comisario Flores und schaute wieder zu der jungen Frau, »Aber ich kenne sie.«
Mehr sagte er nicht, doch in seinen Augen erkannte Guardia Rojas Angst.
••••
Bevor Comisario Flores zu der jungen Frau ins Verhörzimmer ging, schaute er nachdenklich durch das Einwegspiegelglas. Die gesamte Zeit bis hierher, in die Polizeistation von Tarma, hatte sie kein Wort gesprochen. Auch keinen Widerstand geleistet. Comisario Flores hatte gegenüber Guardia Rojas behauptet, dass er sie kennen würde. Doch das war nicht ganz richtig gewesen. Tatsächlich hatte er nur dieses unbestimmte Gefühl gehabt, sie schon einmal gesehen zu haben. Eine Art Déjà-vu.
Comisario Flores hatte darauf bestanden, sie zunächst allein zu befragen. Und so betrat er schließlich das Verhörzimmer, schloss die Tür und setzte sich ihr gegenüber.
»Dieses Gespräch wird nicht aufgezeichnet,« sagte er und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. Sollte das entspannend wirken? Oder wollte er ihr nur nicht zu nahe sein?
Er räusperte sich. Schaute kurz zur kleinen Kamera hinter ihm in der linken oberen Ecke des Raums. Dann wieder zurück.
»Also, wie heißen Sie?« fragte er.
Sie hatte ihn bereits, seit er den Raum betreten hatte, angeschaut. Jetzt zogen sich ihre Augenbrauen minimal zusammen, zuckten vielleicht nur kurz. Dann lächelte sie.
»Ich habe ganz vergessen, dass du mich immer wieder vergisst, Inyan,« sagte sie und bremste dann ihr Lächeln etwas ab.
Comisario Flores versuchte sich die Bestürzung nicht anmerken zu lassen, war er doch darin bestätigt worden, dass beide scheinbar tatsächlich mehr verband.
»Bleiben Sie bitte beim Sie und nennen Sie Ihren Namen. Sie hatten keinen Ausweis bei sich.«
»Ich brauche keinen Ausweis.«
»Haben Sie keinen Namen?«
»Doch. Ich habe einen Namen. Wie sollte man mich sonst rufen?«
Für eine Weile war es still. Comisario Flores hatte bei der Art, wie sie rufen ausgesprochen und betont hatte, ein ungutes Gefühl. Es war wie eine Erinnerung, doch ohne konkrete Bilder oder Worte. Wenn er sie ansah – und sie ihn – wusste er, dass sie in ihn hineinschaute. Wahrscheinlich konnte sie seine Furcht riechen, die mit jeder Sekunde ihres Schweigens zunahm.
Er räusperte sich erneut. Normalerweise beherrschte er dieses Spiel. Schließlich war er in einer wesentlich besseren Position. Er war das Gesetz; er unterstand dem Gesetz, korrigierte er sich im Stillen. Sie war nur eine junge Frau ohne Namen, ohne Papiere, ohne saubere Kleidung, ohne Dach über dem Kopf. Weshalb hatte er Angst vor ihr?
Es war klar, dass sie das Spiel genoss. Vielleicht war es das.
»Mein Name ist Kiona,« sagte sie plötzlich in die Stille hinein.
Kiona. Das war ein alter Name, nicht mehr sehr gebräuchlich. Ihre Eltern waren wahrscheinlich Indigene der Inka, obwohl die junge Frau mehr wie eine Spanierin aussah.
Kiona. Comisario Flores ließ den Namen, das Wort, diese Folge aus wenigen Lauten ein paar Mal durch seinen Mund wandern. Nicht so, dass sie es wahrnahm. Er versuchte eine Verbindung zu seinem Gedächtnis herzustellen. Doch da gab es nichts. Kein loser Faden, der begierig auf sein Gegenstück wartete.
»In Ordnung, Kiona. Und weiter?« fragte der Comisario schließlich.
»Nichts weiter,« antwortete die junge Frau. Ihr Blick, ihre gesamte Erscheinung waren unergründlich und wie aus der Zeit gefallen.
»Ich benötige Ihren Nachnamen. Allein mit ihrem Vornamen können wir nichts anfangen,« sagte der Comisario.
Und da endlich eine kleine Regung: die junge Frau lächelte.
»Kiona ist mein Name. Weder Vorname noch Nachname. Ich habe keinen anderen.«
»Gut, Kiona,« sagte Comisario Flores und schrieb den Namen in sein Notizbuch, das er offen vor sich auf den Tisch, der zwischen ihm und der jungen Frau stand, gelegt hatte. »Ich schalte jetzt Mikrophon und Kamera dazu. Alles, was Sie ab jetzt sagen und tun, wird aufgezeichnet und kann später gegen Sie verwendet werden. Wollen Sie dazu etwas sagen?«
»Ich hoffe, es kann auch für mich verwendet werden, Inyan,« sagte sie und lächelte erneut.
»Selbstverständlich,« sagte Comisario Flores und schaltete Mikrophon und Kamera an. Die Schalter dafür befanden sich unter dem Tisch.
»Zeugenbefragung am siebten November Zweitausendundzwanzig. Anwesend ist die Zeugin Kiona. Die Befragung leitet Comisario Inyan Flores. Sonst ist niemand anwesend,« sagte er den Vorschriften gemäß. Dann blätterte er kurz in seinen Aufzeichnungen.
»Wir haben Sie heute um elf Uhr vormittags am Huagapo aufgegriffen, als Sie die Höhle gerade verlassen haben. Sie wurden am gestrigen Abend dort gesehen und den Behörden gemeldet. Laut Zeugenaussagen sind Sie gestern Abend zu viert zum Haupteingang in die Höhlen hineingegangen. Wo sind die anderen drei? Um wen handelt es sich?«
»Du kannst dich wirklich nicht an mich erinnern, Inyan?« fragte die junge Frau, lächelte aber nicht mehr. Comisario Flores schaute sich jeden Buchstaben seiner Aufzeichnungen einzeln an, um sie nicht anschauen zu müssen.
»Bitte beantworten Sie meine Fragen,« sagte er noch einmal eindringlich. Das Zittern in seiner Stimme konnte er kaum noch unterdrücken.
»Du weißt, wer ich bin, Inyan,« sagte die junge Frau und beugte sich nach vorn. Ihr Oberkörper war nun gegen die Tischkante gedrückt. Die Arme ließ sie weiterhin locker neben ihrem Körper hängen. »Komm zurück mit mir zum Huagapo.«
Zwei Tage zuvor
Es war nicht ganz so dunkel, wie es hätte sein sollen um diese Zeit. Spätherbst im Hochland. Und sie hatten die Rückreise ins Basislager verpasst. Willentlich. Oder eher: sich abgeseilt, waren zurückgeblieben und dann wieder zurückgelaufen. Dass sie das Basislager nicht mit der Gruppe gemeinsam erreichten, würde erst auffallen, wenn die Gruppe dort ankam. Dann wäre es tatsächlich zu dunkel, um nach ihnen zu suchen.
Tenya war trotzdem mehr besorgt als enthusiastisch. Ständig schaute sie sich um. In regelmäßigen Abständen hörten die anderen drei sie schnellen Schrittes zu ihnen aufschließen. Die anderen drei waren: Kowi, Tenyas Freund, Kenai und Kiona.
Die vier jungen Erwachsenen kannten sich erst seit ein paar Wochen. Genauer: Kowi, Tenya und Kenai waren bereits vor Beginn ihres Studiums miteinander befreundet gewesen. Kiona hatte sie in den ersten Tagen des neuen Semesters angesprochen. Alle vier studierten Ökologie in Lima. Der Huagapo war also ein lohnendes Ziel, stand jedoch erst im späten Studium als Exkursionsort auf dem Plan. Zuvor blieb nur, sich einer Touristengruppe anzuschließen.
Eigentlich hatten sich Kowi, Tenya und Kenai bisher kaum für den Huagapo interessiert. Die tiefe Höhle im Hochland mit dem kalten Wasser war anstrengend und herausfordernd. Und wirklich begehbar war auch nur der vordere Teil. Für die Touristen. Wollte man weiter ins Innere vorstoßen, war das nur mit Fachpersonal und guten Gründen möglich. Die gab es im fortgeschrittenen Studium, als Exkursion ausgezeichnet. Und was die Gründe betraf, hatten die drei Freunde bisher eher welche im Kopf gehabt, die gegen den Huagapo als Reiseziel sprachen. Um ehrlich zu sein, hatten sie bisher nie an den Huagapo gedacht. Das war Hochland, touristisch vereinnahmt.
»Lasst uns auf das Studium konzentrieren,« hatte Kenai stets gesagt und dabei gelacht. Das machte er immer, wenn er unsicher war und das verbergen wollte.
Doch dann war Kiona zu ihnen gestoßen, und alles hatte sich geändert. Von einem Tag auf den anderen. Oder eher zwischen zwei Vorlesungen. Eine Vorlesungspause hatte genügt, um sie zu überzeugen, dass sie um den Huagapo nicht mehr herumkommen würden.
Wie hatte Kiona das nur geschafft? Das war die alles entscheidende Frage für Kenai, obwohl er die Antwort bereits kannte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Und dann hatte auch er, gemeinsam mit Kiona, die beiden anderen von der Expedition überzeugt.
Liebe auf den ersten Blick. Nicht auf den Huagapo bezogen selbstverständlich. Auf Kiona. Wie lächerlich das alles war, wusste Kenai. Er war kein Teenager mehr und spürte genau, dass Kiona kein Interesse an ihm hatte. Dennoch war da etwas, das ihn hoffen ließ. Vielleicht waren es auch nur ihre Blicke, ihre Worte, direkt an ihn gerichtet. Sie taten gut. Und sie wirkten wie eine Droge.
Kenai hatte von der Droge probiert und konnte nun nicht mehr davon lassen. Er brauchte mehr. Er brauchte es häufiger. Wie konnte er da nein sagen, als Kiona ihn dazu einlud, mit ihr mehrere Tage den Huagapo zu erkunden? Drei oder vier oder sogar mehr Tage allein mit Kiona in der Abgeschiedenheit des peruanischen Hochlands. Gut, sie wären nicht völlig allein. Doch Kowi und Tenya hatten einander und würden sie gewiss meistens in Ruhe lassen. Und sei es, dass sie selbst diese Ruhe suchten.
Doch Kenai war nicht nur wegen Kiona bereit, sich auf den Huagapo einzulassen. Als feststand, dass sie es wagen wollten, als Touristen getarnt, das Höhlensystem auf eigene Faust und eigenes Risiko zu erkunden, hatte sich Kenai mehr noch als die anderen darüber belesen. Es kann gut sein, so wie das mit der Liebe oft ist, dass seine Zuneigung zu Kiona ein gutes Stück dazu beigetragen hat. Ihr Interesse; sein Interesse. Und schon ist eine Basis gefunden, auf der sich doch wohl aufbauen lässt, oder?
Es war klar, dass diese Hoffnung, von der Kenai glaubt, dass sie es gab, von ihm allein ausging. Aus seinen Träumen, seinen Wünschen und Anstrengungen. Es war klar, hieß, allen anderen war es klar. Nur nicht Kenai. Doch wenn einer zu ihm kam, um ihm vorsichtig die Augen zu öffnen suchte, drangen die Worte und Ratschläge nicht weit vor. Sie wurden vom Herz abgeschirmt und kamen nicht einmal in die Nähe seines Geistes.
Schließlich waren Kowi und Tenya nur deshalb mitgekommen, weil sie auf Kenai aufpassen wollten. Ja, sie hatten einander. Dennoch ging es beiden in erster Linie um ihren Freund. Denn ohne den verklärenden Schleier der rosaroten Brille hatten die beiden von Kiona einen etwas anderen ersten Eindruck gehabt, der sich mit der Zeit sogar noch verschlechterte.
Je länger man mit jemandem zusammen ist, je öfter man sich trifft, desto mehr erzählt man von sich, gibt etwas preis, vielleicht sogar unangenehme Dinge, die man fremden Menschen nicht erzählt, Freunden aber schon.
Tenya hatte sich anfangs gefreut. Mit Freund an die Universität zu wechseln, konnte schwierig sein. Vor allem, wenn es ihr darum ging, neue Freundinnen zu finden. Die meisten wollten doch abends in Gruppen weggehen, um Jungs kennenzulernen. Das musste sie nicht mehr. Und was wäre der nächste Schritt? Ein Kind, um schließlich mit anderen Müttern und den Kinderwagen die immer gleichen Wege zu befahren und dabei die immer gleichen Gespräche zu führen?
Als Kiona sie angesprochen hatte, hatte Tenya geglaubt, dass sie eine gute Freundin werden könnte. Eine unabhängige junge Frau, die sich trotz Freund für sie interessierte. Doch je mehr sie selbst sich öffnete, umso verschlossener verhielt sich Kiona. Nie sprach sie von sich selbst, woher sie stammte etwa, wo sie lebte, zu Hause mit ihren Eltern oder schon allein? Hatte sie Geschwister? Hatte sie Hobbies? Hörte sie gern Musik? Zu alledem sagte sie nichts. Das einzige, das sie interessierte, schien der Huagapo zu sein.
••••
Die Umrisse des hohen Eingangs zum Huagapo waren noch erkennbar, als die vier Freunde dort ankamen. Wieder ankamen. Kiona schaute sich kurz um. Kein anderes Licht als die Sterne am Himmel konnte sie erkennen. Das verschaffte ihnen mindestens eine Stunde Vorsprung, sollte doch noch jemand heute Nacht so leichtsinnig sein, um nach ihnen zu suchen. Sie setzte ein Grinsen auf, das die anderen drei glücklicherweise nicht sahen. Dann wandte sie sich ihnen wieder zu.
»Gehen wir weiter. Jetzt sind wir sicher,« sagte Kiona.
»Und wenn uns da drin etwas passiert? Niemand wird uns helfen,« sagte Tenya, an Kiona gewandt.
»Uns passiert schon nichts,« sagte Kiona und schaute Tenya an, lächelte beinahe. Und obwohl Tenya ihr nicht traute, beruhigte sie das auf eine sonderbare Weise.
7. November 2020, Nachmittag
Comisario Inyan Flores zog die Handbremse seines kleinen Geländewagens an und streckte die Arme durch, deren Hände das Lenkrad fest umklammert hielten.
»Kannst du dich wieder erinnern?« fragte Kiona, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.
Comisario Flores schloss seine Augen, atmete tief ein; lange aus.
»Ich konnte es schon, als ich dich heute Morgen hier gesehen habe,« sagte er und schaute sie an. Flüchtig. Um sich nicht in ihrem Blick zu verfangen.
»Wieso machst du das, Kiona? Weshalb bist du zurückgekommen?« fragte er, bevor sie darauf etwas sagen konnte. Dabei schaute er auf den weit geöffneten Huagapo direkt vor ihnen.
»Hier ist die richtige Zeit. Diesmal wird es funktionieren,« sagte sie und versuchte, seine Hand zu ergreifen. Doch er zog sie weg.
»Du warst dir auch beim letzten Mal sicher. Und ich habe lange gebraucht, dich zu vergessen,« sagte er etwas entrückt, holte sich aber sofort wieder in die Gegenwart zurück, indem er sich mit beiden flachen Händen hart über das Gesicht strich.
»Und was ist denn diesmal anders?« Jetzt hatte er die Kraft, sie etwas länger anzuschauen.
»Ich hatte keine Mühe,« sagte Kiona und lächelte, als er sie ansah.
»Du hattest keine Mühe,« wiederholte er, zweifelnd, doch ahnend, was sie meinte. Deshalb gebot er ihr auch mit einer abwehrenden Geste seiner rechten Hand, nicht darauf einzugehen.
Er wusste es, doch er wollte es nicht hören. Konnte er sich so aus der Verantwortung stehlen? Die Wahrheit war: Er hatte sich schuldig gemacht, ab dem Moment, als er sie am Morgen erkannt und die Untersuchung keinem Kollegen übertragen hatte.
»Lass uns gehen,« sagte er schon halb aus seinem Geländewagen ausgestiegen. Seine Hand glitt beinahe zärtlich über den dunkelblauen Lack auf dem Dach. So unergründlich dunkelblau wie die Galaxis um sie herum. Der unendliche Raum; die unendliche Zeit.
»Bist du bei mir?« hörte er sie fragen. Er schüttelte den Kopf, doch nicht, um zu verneinen, sondern um sich in die Gegenwart zurückzuholen. Weshalb eigentlich? Das Unvermeidliche hinauszuzögern war unsinnig. Die Konfrontation.
»Gehen wir,« sagte er und ergriff ihre Hand. Dann liefen sie gemeinsam zum Huagapo, durch den großen, offenen Eingang hinein und verschwanden im gurgelnden Dunkel mit dem rauschenden Wasser.
15. November 1532, Vormittag
Am neunten Tag ihres Fußmarschs von der Grotte Huagapo nach Norden die alte Inkastraße entlang, war es Kiona und Inyan kaum noch möglich, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ihre Füße und Beine schmerzten bereits nicht mehr. Im Gegenteil: sie spürten sie kaum noch.
Trotzdem mussten sie weitergehen. Wenn sie der Lauf der untergehenden und wieder aufgehenden Sonne nicht trog, war heute der entscheidende Tag vor dem entscheidenden Tag. Heute war der Tag, an dem sie ihn erreichen mussten, um ihn noch erreichen zu können.
Der heutige Tag war der Tag vor dem Schicksalstag ihres Volkes. Denn nicht nur Kiona war Inka; auch Inyan war es. Die alte Zeit und der dunkle Fels. Beide aus der Zeit gefallen, nur mit einem Ziel: Um das Schicksal zu bereinigen und das Unrecht zu wandeln.
Ein Wort nur. Ein Wort genügte. Und Vertrauen auf der anderen Seite. Vertrauen darauf, dass das gesprochene Wort vom Jenseits des großen Wassers tatsächlich nichts wert war. Und das gesprochene Wort einer Fremden aus dem selben Volk die Wahrheit war.
Alles war schließlich nur Zufall. Die Geschichte hing von Einzelpersonen ab. Nur eine Entscheidung bestimmte, ob die Geschichte nach links oder nach rechts abbog. Wem ein Mensch glaubt, davon hing das Schicksal ab. Wem soll man glauben: dem kennengelernten Fremden oder dem unbekannten eigenen Blut?
»Ich hatte die Schwelle bereits überschritten, Kiona,« sagte Inyan, obwohl ihm nicht zum Reden war, schon gar nicht über seine eigene Schwäche, was ihre Aufgabe betraf. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er es sagen musste. Es musste hinaus aus seinem schwachen Körper, damit der Geist in ihm wieder die Kontrolle übernehmen konnte.
»Ich weiß,« sagte Kiona nur, ergriff kurz seine Hand und drückte sie.
»Ich hatte mich in diesem bequemen Leben eingerichtet, hatte meine Verantwortung weggeschoben. Ich habe dich verleugnet. Es tut mir leid.«
Da war es. Es war gesagt. Es war in der Welt und nicht mehr nur in ihm.
»Es ist gut, Inyan,« sagte Kiona, schaute ihn an – sie liefen nebeneinander, der Weg war gerade danach – lächelte kurz. »Es ist gut, denn jetzt bist du hier. Nur das Jetzt zählt. Denn, was wird, wird nicht mehr sein. Wenn wir es rechtzeitig zu ihm schaffen. Lass uns die Kräfte jetzt konzentrieren und nicht mehr sprechen. Heute Abend müssen wir bei ihm sein.«
15. November 1532, Nachmittag
Die Wegstrecke von drei Tagen an einem Tag mal neun lag hinter ihnen. Beinahe eintausend Kilometer nach Norden, und endlich lag Cajamarca vor ihnen. Das Gefolge des Herrschers zu finden, sollte nicht schwierig sein. Doch das war nicht ihr Ziel.
Ihr Ziel hieß Atahualpa. Gerade erst war er Herrscher geworden. Der Zweikampf mit dem Bruder Huáscar hatte sich zu seinen Gunsten entschieden. Er war nun für das Volk der Inka verantwortlich und auf dem Weg zurück in die Hauptstadt Quito.
Was Atahualpa jedoch nicht wusste, war, dass er Quito nicht mehr erreichen würde, wenn, ja, wenn er Kiona und Inyan nicht anhörte.
Bereits an der Peripherie der großen Ebene lagerten die Fremden. Kiona und Inyan waren also an der falschen Seite zur Stadt gekommen. Doch das ließ sich jetzt, da sie bereits entdeckt waren, nicht mehr ändern. Irgendwie mussten sie auf die andere Seite der Stadt gelangen, ohne viel Aufsehen zu erregen. Ein paar Mal wurden sie angesprochen, doch dann gaben sie sich verängstigt, drängten sich aneinander und taten so, als würden sie die Sprache der Fremden nicht verstehen.
Die Fremden waren teilweise sehr aufdringlich, herrschaftlich, agierten wie Besatzer, nicht wie Besucher. Bis ein Mann auf der Bildfläche erschien, der Kiona und Inyan nur zu bekannt war: Francisco Pizarro. Einmal hatten sie ihn gesehen, wie er den Sieg über Atahualpa feierte. Ein anderes Mal, wie er gerade erst an der Küste landete. Dann, wie er von den eigenen Leuten umgebracht wurde. Doch heute war der richtige Tag.
Kiona schaute Pizarro nur kurz an und bedeutete Inyan, sich schnell mit ihr davonzumachen. Denn sobald Pizarro die Bühne betreten hatte, hielten sich seine Männer zurück. Kiona und Inyan konnten ohne weiteres Aufsehen verschwinden.
Auf der anderen Seite der Stadt ging es nicht weniger geschäftig zu. Auch hier lag eine gewisse Spannung in der Luft. Doch alles war mehr in eine Stimmung getaucht, die bereits auf die Krönungsfeierlichkeiten in Quito fokussiert war. Das kleine Treffen mit dem fremden Besucher von jenseits des großen Wassers sollte lediglich eine willkommene Pause sein. Man würde sich anhören, was der Fremde wollte. Dann endlich weiterziehen in die Hauptstadt. Rauschende Feste. Eine neue Zeit.
»Ich habe dem Herrscher etwas wichtiges mitzuteilen,« sagte Inyan der Wache vor dem Zelt Atahualpas. So oft waren sie bereits hier gewesen. Doch immer zu zeitig oder zu spät. Es war klar, wo der Herrscher war. Kiona und Inyan hatten nicht lange suchen müssen.
»Der Herrscher ist nicht zu sprechen,« kam die zu erwartende Antwort.
»Es geht um das morgige Treffen. Ihr alle seid in großer Gefahr,« sagte Inyan eindringlich.
Die Mine der Wache änderte sich nicht. Tatsächlich standen zwölf muskulöse Männer vor dem Eingang zum Herrscher. Der von Inyan Angesprochene suchte kurz den Blickkontakt zu seinem Nebenmann. Als er Inyan wieder anschaute, musste er laut lachen.
»Wir sind ein ganzes Volk, während die Fremden auf der anderen Seite nur ein kümmerlicher Haufen sind,« sagte die Wache schließlich.
»Arroganz und Überheblichkeit waren noch nie gute Berater. Vor allem nicht, wenn der Fremde mit gespaltener Zunge spricht,« sagte Inyan darauf.
Diese Worte ließen die Wache länger nach einer folgenden Entgegnung suchen. Und ein paar mehr Augenpaare hatten sich auf Inyan gelegt. Das Zwiegespräch, das fruchtlose, da ergebnislose Hin und Her ging noch eine Weile so weiter, bis plötzlich der Herrscher vom Inneren seines Zeltes ins Freie trat.
Augenblicklich verstummte die Wache. Alle senkten ihre Köpfe. Außer Inyan. Er wusste, dass er den Herrscher nicht direkt anschauen sollte, doch seinetwegen waren sie hier. Er war das Ziel. Seine Augen ließen sich nicht mehr bewegen.
Bis er hinter dem Herrscher eine Bewegung wahrnahm. Zunächst nur ein Schatten, der immer mehr Kontrast erhielt. Dann war es deutlich eine menschliche Gestalt. Und wenig später stand Kiona neben Atahualpa. So wie es vorbestimmt war.
»Habt Dank für Eure Worte der Mahnung und das Licht, das ihr dem morgigen Tag vorausgeschickt habt,« sagte Atahualpa an Kiona gerichtet.
Sie nickte und beugte dann ebenfalls kurz ihren Oberkörper, richtete sich jedoch sofort wieder auf. Inyan hätte nicht gedacht, sie noch einmal so zu sehen. Doch er war froh darüber, sie überhaupt wiederzusehen. Das war ein gutes Zeichen.
»Habt Dank für Euer offenes Ohr und Euer weites Herz,« sagte Kiona und trat dann an die Seite Inyans.
»Ist er dein Begleiter?« fragte Atahualpa mit einem Kopfnicken in Inyans Richtung. Den früheren Comisario beeindruckte, wie viel Würde und Autorität ein so einfaches Kopfnicken ausstrahlen konnte.
»Ja, sein Name ist Inyan,« sagte Kiona.
»Die alte Zeit und der dunkle Fels,« sagte Atahualpa lakonisch und schaute dabei von Kiona zu Inyan und wieder zurück zu ihr. Er schien kurz in Gedanken versunken zu sein, doch dann lächelte er. »Seid meine Gäste heute Nacht und morgen Zeugen dafür, wie ich den Fremden ihren Weg zurück über das große Wasser weisen werde.«
Kiona und Inyan bedankten sich ebenfalls mit einem Kopfnicken. Die Wache, mit der Inyan bis eben beinahe einen Streit initiiert hätte, wusste, was zu tun war. Er führte sie zu einem nahegelegenen Zelt, in dem die beiden Gäste des Herrschers schlafen konnten. Eine gemeinsame Mahlzeit am Feuer beschloss den vorletzten Tag vor dem letzten Tag, der ab morgen nicht mehr der letzte sein sollte.
16. November 1532, Mittag
Die Geschichtsbücher und alle, die sie lesen, kennen diesen Tag als den letzten des Inka-Reiches, als Tag der Schlacht von Cajamarca, die tatsächlich keine Schlacht war. Die Bezeichnung, die den wirklichen Umständen der Geschichte entspricht, muss lauten: Massaker von Cajamarca. Nur mit Heuchelei, falschen Worten und Verrat war es Francisco Pizarro möglich gewesen, Atahualpa, den letzten Herrscher der Inka gefangenzunehmen und beinahe die Hälfte seiner Gefolgschaft zu massakrieren.
Freien Stücken und keinen Hinterhalt ahnend war Atahualpa am Morgen des geschichtsträchtigen Tages aufgebrochen, um die Einladung Pizarros anzunehmen. Der Spanier war ein Mann aus dem niederen Volk gewesen. Er hatte vom Gold und leicht zu stehlendem Reichtum in Südamerika gehört und war, wie viele andere, aufgebrochen, um sein eigenes Glück zu suchen.
Nur einhundertsiebzig Mann waren in Cajamarca bei ihm. Für eine offene Feldschlacht wäre das selbstmörderisch gewesen. Selbst gegen nur leicht bewaffnete Inkas wäre deren Stärke von etwa viertausendfünfhundert Mann entscheidend gewesen.
Einhundertsiebzig gegen viertausendfünfhundert. Wie konnte ein Mann bei klarem Verstand überhaupt darauf kommen, dass hierbei, auf der schwächeren Seite stehend, eine physische Auseinandersetzung erfolgreich enden könnte? Nun, Pizarro hatte Pferde und Kanonen; er war beweglich, setzte auf Überraschung und die durchschlagende, zerstörerische Kraft seiner überlegenen Waffen. Doch das entscheidende Moment hieß: Hinterhalt.
Atahualpa wurde in einen Hinterhalt gelockt. Seine Gutgläubigkeit, vielleicht aber auch seine Arroganz als Sieger einer eben erst erfolgreich geschlagenen Schlacht um den Thron, hatte Pizarro für sich nutzen können.
Mit seiner Entourage war der Herrscher zum Lager Pizarros gezogen. Am Morgen hatte das Spektakel begonnen. Stunden soll es gedauert haben. Kannte Pizarro die Gebräuche oder standen nur alle Zufälle des Tages auf der Seite der Spanier? Durch den langen Zug stand Atahualpa kein Heer zur Verfügung. Alle Krieger konnten bei Ausbruch des Kampfes nur nachrücken. Und die von weiter hinten erst Herankommenden mussten vermutlich erst darüber Nachricht erhalten, dass weiter vorn etwas Heimtückisches ins Rollen gekommen war.
Das tatsächliche Schauspiel begann jedenfalls erst, als Atahualpa vor dem Zelt Pizarros angekommen war. Der Dominikaner Vicente de Valverde kam ihm mit Kreuz und Dolmetscher entgegen. Dann begann er, Atahualpa einen Vortrag über das Christentum zu halten. Die Szenerie muss nicht nur dem neuen Herrscher der Inka seltsam vorgekommen sein. Mit fortschreitender Zeit wurde er immer verärgerter. Er verstand den Sinn dieses Gebarens nicht. Hatte ihn doch Pizarro zu sich eingeladen. Und nun stand dieser seltsame Geistliche vor ihm, der ihm von Jesus und dem einen Gott erzählte.
Man sagt, wer sich von Gefühlen leiten lässt, kann nicht mehr klar und zielgerichtet denken. Und Wut ist wohl das stärkste Gefühl, von dem sich der Mensch leiten lassen kann. Atahualpa muss zu dieser Stunde sehr wütend gewesen sein. Der Dominikaner hatte ganze Arbeit geleistet. Und es war genau das, worauf Pizarro gehofft hatte.
Als die Spanier vor einigen Jahren zum ersten Mal an der Westküste Südamerikas ihre Füße an Land gesetzt hatten, waren sie von den Einheimischen freundlich willkommen geheißen worden. Nichts ahnten sie von der Gier der Fremden. Neugierde war ihr Antrieb, der sie den Fremden ohne Argwohn in die Arme trieb. In diesen vergangenen Jahren hatten die Spanier alle Schwächen der Einheimischen kennengelernt. Und jetzt war der Tag gekommen, diese Schwächen auszunutzen.
Auf die entscheidende Schwäche setzte Pizarro an diesem Tag alles: dass die Inka ohne Anführer nichts waren. Ohne Herrscher waren die Inka nicht nur im übertragenen Sinne kopflos.
Als Pizarro Atahualpa an diesem Tag gefangen nahm, hatte er danach selbst mit nur einhundertsiebzig Mann leichtes Spiel gegen die scheinbare achtundzwanzigfache Übermacht der Inka.
Nur zwei Spanier sollen an diesem Tag, an diesem Ort zu Tode gekommen oder lediglich verwundet worden sein.
••••
»Nein, ihr seid meine Gäste. Ihr habt zum Sieg über die Fremden bereits genug beigetragen. Nun ist es an mir, dieses Kapitel zu schließen.«
Atahualpas Worte auf die Bitte Kionas und Inyans, ihn zu begleiten. Doch sie sollten auf die nahe Anhöhe im Rücken der Inka steigen, um die Demütigung zu bezeugen, die Atahualpa dem Heuchler Pizarro verschaffen würde.
Nein, töten würde er ihn nicht. Kein einziger Mann, weder einer der seinen noch einer der Fremden, sollte heute sterben. Atahualpa würde kein Massaker von Cajamarca zulassen. Denn die Fremden sollten mit jeder Faser ihrer verdorbenen Körper spüren und all ihren Verwandten jenseits des großen Wassers berichten, dass die Inka sie durchschaut hatten. Sollten sie jemals wieder einen Fuß auf dieses Land setzen, würden die Inka sie entsprechend willkommen heißen. Nicht mehr freundlich. Diese Zeiten waren vorbei.
Der List Pizarros, ihn im Handstreich gefangenzunehmen, konnte Atahualpa nur mit einer Gegenlist begegnen. Und so zog er zwar an der Spitze seines Gefolges wie geplant Pizarro entgegen. Doch seine Kämpfer wies er an, die Spanier einzukreisen. Lautlos. Sie sollten nichts ahnen. Und auf sein Signal hin, sollten sie alle feindlichen Krieger festsetzen. Zuerst die Kanoniere weit im Hintertreffen. Dann die Fußsoldaten. Den Reitern und ihren Pferden hatten sie in der Nacht bereits Fallen gelegt.
Als Kiona vor wenigen Stunden plötzlich in seinem Zelt stand, kam ihr zugute, was der Inka Schicksal während des Massakers von Cajamarca werden sollte: der Glaube an jenes Schicksal sowie eine gewisse Gutgläubigkeit gegenüber gesprochenen Worten – egal wer sie sprach.
Der neue Herrscher der Inka ergab sich in sein Schicksal. Egal, was die junge Frau in seinem Zelt wollte: wenn sie es bis hierher geschafft hatte, war es Wille der Götter, sie nicht aufgehalten zu haben. Wäre es ihre Bestimmung gewesen, ihn zu töten, er hätte es zugelassen. Doch scheinbar war ihre Bestimmung gewesen, ihn vor den Fremden zu warnen. Also hörte er sich in Ruhe an, was sie zu sagen hatte und glaubte ihr in allem. Denn weshalb sollten ihm die Götter auf eine derartig seltsame Weise begegnen? Ihm erst eine Falle stellen, um ihn gefangennehmen und später töten zu können, doch zuvor noch eine Warnerin zu senden, die ihn sofort hätte töten können? Atahualpa erwog diese Frage kurz, verwarf sie jedoch als Unsinn.
Die Götter hatten gewiss andere Dinge zu tun, als soviel unnötige Zeit mit ihm zu verschwenden. Atahualpa empfand sich selbst als wichtig, aber keineswegs als König der gesamten bekannten Welt. Vielleicht war es sein Schicksal zu sterben, sollte er die von den Göttern gesandte Warnerin nicht ernst nehmen. Vielleicht hatte den Göttern nicht gefallen, dass er seinen Bruder im Kampf um den Thron getötet hatte. Doch die Warnerin war seine Chance, diesen Frevel wieder gut zu machen.
Sei es wie es sei, Atahualpa begriff die Worte Kionas als Chance, hinter die Worte Pizarros zu blicken. Plötzlich ergaben alle Ausflüchte des Fremden einen Sinn. Alle nicht gesagten Worte, alle unnötigen Pausen, die der Inka-Herrscher im Rückblick als unausgesprochene Geheimnisse verstand. Kiona hatte ihm die Augen geöffnet. Nicht nur den Spaniern gegenüber, sondern auch, was sein eigenes Volk betraf.
Die Inka waren Fremden stets freundlich gesinnt gewesen. Fremde, die seltsam aussehen und zerstörerische Waffen besaßen, mussten entweder von den Göttern gesandt oder selbst Götter sein. Seinen Götterglauben wollte Atahualpa nicht ablegen. Das konnte er auch nicht, nicht einmal denken. Denn seine Götter waren seine Welt. Wie sollte er etwas denken können, das nicht seine Welt war? Unmöglich.
Doch er wusste nun, dass die Spanier nicht zu seiner Welt gehörten. Sie waren nicht von seinen Göttern gesandt, und sie waren auch selbst nicht von göttlichem Wesen. Wer immer sie geschickt hatte, berührte nicht Atahualpas Welt und die seines Volkes. Egal, was mit den Fremden geschah, konnte ihm gleichgültig sein.
Dennoch, und darin ermahnte er auch seine Gefolgsleute und Krieger, sollte den Fremden nichts geschehen. Gerade, weil sie nicht in ihre Welt gehörten. Er wollte den Fremden und alle, die aus deren Welt stammten, keinen Anlass bieten, um je zurückkehren zu wollen. Sie sollten erkennen, dass sie nicht willkommen waren. Und Rache sollte kein Motiv sein, das sie zurückkehren ließ.
17. November 2020, Mittag
Die kleine Touristengruppe hatte ihr Ziel erreicht. Zum ersten Mal überhaupt war es Besuchern erlaubt, über den abgesperrten Bereich hinaus in den Huagapo vorzudringen. War heute ein besonderer Tag? Im Grunde nicht. Tenya, Kowi und Kenai waren deshalb überrascht gewesen, als ihre Führer ihnen im Morgengrauen gesagt hatten, dass sie sich glücklich schätzen durften.
Ihnen war erlaubt worden, ihnen den gesamten Huagapo zu zeigen. Über den kalten Fluss hinaus, über die schmalen, schwer gangbaren, zum Teil auch gefährlichen Gänge bis zur lichtglitzernden Höhle mit ihrer atemberaubenden Stalagmitarchitektur.
Besonders Tenya hatte sich den Teil, in dem das Wort gefährlich auftauchte, im Gedächtnis behalten, und ihr Freund Kowi hatte ihre leichte Anspannung bemerkt. Sie könne hier warten, wenn ihr die weitere Expedition nicht geheuer sei, hatte er zu ihr gesagt. Hier bezog sich auf die Absperrung, die den relativ sicheren vorderen Teil des Huagapo vom kaum erforschten hinteren Teil trennte. Doch allein dort warten wollte Tenya noch weniger. Außerdem strahlten ihre beiden Führer Vertrauen und Kompetenz aus. Wenn sie sich vorsichtig genug verhielten, würde schon nichts passieren.
Die kleine Gruppe kam nun noch langsamer vorwärts als zuvor. Doch die beiden Führer summten alte Melodien, in die Tenya, Kowi und Kenai schnell einstimmen konnten. Die Musik schaffte eine besonderes Band der Gemeinschaft, die sie keineswegs leichtsinnig werden ließ, sondern im Gegenteil stärker auf jeden einzelnen Schritt fokussierte.
So bemerkten sie sofort, wie sich die optischen Verhältnisse vor ihnen veränderten, weil ihre Sinne in allem geschärft waren. Minimale Veränderungen in der Luft ließen sie genauer hinschauen: tanzende Staubteilchen, die von der Decke rieselten, ein Wassertropfen, der ihre Gesichtshaut streifte und von dort laut auf den Steinboden fiel, feine Lichtpartikel, die sich an ihre Netzhaut hefteten und wieder verschwanden, sobald das Auge blinzelte.
Hinter jeder Ecke konnten sie mehr erkennen. Doch ihre Blicke öffneten sich erst, als sie am Ende des langen Ganggeflechts angekommen waren. Als sich alles vor ihnen öffnete, strömte alles geballt auf sie ein, was sie zuvor nur sacht berührt hatte:
Vor ihnen lag eine Höhle, durch deren Decke das gebündelte Sonnenlicht schien. Darunter ein klarer See, durchzogen von grünen Wegen, die kaum natürlichen Ursprung sein konnten. Am Ufer blühten Gräser und Blüten und kleine Früchte tragende Bäume. Schmetterlinge und Insekten tanzten im Gras. Ihre Flügelschläge brachten das Sonnenlicht zum Zittern.
In der Mitte jedoch erhoben sich drei mächtige Stalagmiten, deren oberes Ende erst sichtbar wurde, als Tenya, Kowi und Kenai mit ihren beiden Führern weiter in die Höhle hineingingen. Erschrocken blieben sie stehen, als sie erkannten, was die Säulen darstellten.
»Dürfen wir euch Soyala vorstellen?« hörten die drei Besucher plötzlich in ihrem Rücken. Sie drehten sich um, auch um dem Anblick der Säulen zu entgehen.
Soyala stand zwischen den beiden Führern. Sie war eine farblose, große Frau mit langem, wallendem Haar, das sanft vom Licht bewegt wurde. Nicht grau, sondern weiß. Doch sie schien durchsichtig zu sein.
»Was ist das hier? Wo sind wir?« fragte Kenai, der als erster seine Stimme wiedergefunden hatte.
»Hier ist der Raum ohne Zeit. Hier ist Anfang und Ende, Alles und Nichts,« sagte die Frau, die ihnen gerade als Soyala vorgestellt worden war. »Willkommen zurück; willkommen zuhause.«
»Zuhause? Was bedeutet das?« fragte Tenya und klammerte sich an ihren Freund.
»Das werdet ihr erkennen. Ihr habt alle Zeit der Welt dafür,« sagte Soyala und schaute neben sich, zuerst nach links auf Kiona, dann nach rechts auf Inyan.
Beide lächelten und schauten dann hoch auf die drei Stalagmiten, die genauso aussahen wie Tenya, Kowi und Kenai.
© Dominik Alexander / 2020
