Wasabi

Der Sonntag ist zum reflektieren da. Zum besinnen. Mal andächtiger, mal mit offenen Augen.

Mein Sonntag begann mal wieder zu spät. Pünktlich aufgestanden, im Buch festgelesen, und dann musste ich doch wieder mit dem Fahrrad zum Bahnhof fliegen, um den Zug noch zu erwischen. Mein zweiter Tag mit dem Deutschlandticket. Mit vielen Rentnern in meinem Zug. Sehr vielen Rentnern. Aber ich hatte meine Kopfhörer dabei, damit ich mein Buch weiterlesen konnte. Der alte Herr mir gegenüber hatte seine Altherrenschiebermütze fallen gelassen. Hob sie ihm auf, bevor ich ausstieg. Gab sie ihm mit einem Lächeln. Das hat ihn etwas verwirrt, und ich sah deutlich in seinem Gesicht, dass er seine Meinung über mich schlagartig revidierte.

Davon wollte ich aber gar nicht schreiben. Sondern vom Zufall. Der mich meist am Sonntag ereilt. Oder der vielmehr auf den Sonntag zuläuft, sich die Woche über steigert und sich schließlich am siebten Tag der Woche in all seinem Glanz entfaltet.

Ich glaube nicht an Schicksal oder an vorgebahnte Wege. Aber wenn in einer Woche so viele Wege ineinander laufen, glaube ich beinahe daran, dass mir das Universum sagen will: Jetzt schreibe endlich – um Gottes Willen – diesen verdammten Roman! Herrgott nochmal! Worauf wartest du eigentlich?

Und damit hätte das Universum recht, wenn ich dran glauben würde.

Stattdessen habe ich immerhin Notizen gemacht. Von all den kuriosen Begebenheiten der vergangenen Tage, den Unterhaltungen, den Begegnungen, potentiellen Telefonaten (eins davon muss ich in der kommenden Woche unbedingt erledigen!). Da gab es gleiche Ebenen, die aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander zu liefen und sich schließlich verbanden. Da gab es einen Gedanken an längst vergangene Menschen aus einer anderen Zeit, die heute plötzlich mit dem Fahrrad meinen Weg kreuzten und mich nicht mehr erkannten, in ihrem Blick jedoch etwas aufblitzen ließen, das sagte: Ich erkenne da was, kann es aber nicht zuordnen.

Noch mehr Menschen. Noch mehr Stränge aus der Vergangenheit mit losen Enden, die ihren Weg plötzlich in die Gegenwart fanden. Ein Vater mit seinem Kind, das scheinbar der Mittelpunkt der Welt ist und ich sein zerstörerischer Komet. Diese beiden kannte ich zur Abwechslung mal nicht; trotzdem passten sie ins Bild des heutigen Tages. Ein Buch – noch gar nicht auf dem Markt – das mir in schwarzen Farben eine Geschichte weitererzählt, die die beiden Schwestern meines Allgemeinmediziners erst vor wenigen Tagen begonnen haben. Schließlich heute Abend, als sich bei meiner Rückkehr auf dem Bahnhof herausstellte, dass das Deutschlandticket und seine Gültigkeit noch umständlicher und undurchsichtiger sind als ich bisher annahm.

Läuft all das auf eine Novelle hinaus? Sollte es. Denn an meinem Anspruch auf den längsten Roman, der je geschrieben wurde, bin ich bisher stets gescheitert. Außerdem spüre ich den Drang, diese Geschichte zu schreiben, einen Plot zu entwickeln, der all das in der vergangenen Woche Erlebte in eine sinnvolle Ordnung bringt. Nicht der Ordnung wegen, sondern all der kleinen Puzzleteile, die sich aus Vergangenheit und Gegenwart zusammenfanden und zusammenfügten. Am Ende wird es trotzdem vielschichtig sein, eben so, wie das Leben ja auch ist – eben nicht geradlinig; nicht stringent.

Ach ja, der Wasabi vom Titel. Von den mit Wasabi ummantelten Erdnüssen habe ich vorhin eine Nuss zuviel gegessen, während ich mal wieder ins Buch vertieft war. Diese eine Nuss zuviel füllte anschließend meinen Mund mit einer Schärfe, von der ich mich auch jetzt noch nicht erholt habe.

Zum Glück. Sonst hätte ich diesen Text hier nicht mehr heute sondern erst morgen geschrieben.


        © Dominik Alexander / 2023

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