Theaterplatz

Das folgende Dramolett entstand am 07. / 08. November 2015 in Dresden unter dem damals noch immer starken Eindruck der allmontäglichen Pegida-„Spaziergänge“ sowie dieser Petition für ein Verbot bzw. Verlagerung der Pegida-Veranstaltung am 09. November 2015 vom Theaterplatz. Den beiden Personen in meinem Dramolett entsprechen keine realen Personen. Sollte es tatsächlich Personen mit diesen Namen geben (wovon ich ausgehe), ist das völlig zufällig. Diese Personen haben nichts mit meinem Dramolett zu tun. Angelehnt ist das Dramolett an das Stück Heldenplatz von Thomas Bernhard.


            Denk ich an Deutschland in der Nacht,
            Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
            Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
            Und meine heißen Tränen fließen.

                  – Heinrich Heine, Nachtgedanken (1844)


Personen
THEOBALD UNGER, besorgter Bürger und patriotischer Europäer, der eigentlich nichts gegen Ausländer hat, aber…
WERNER WINKLER, Professor, besorgter Wissenschaftler

Dresden am 09. November 2015, auf der Exedra der Semperoper, direkt über dem Eingangsportal, den Theaterplatz allumfassend im Blick
der Theaterplatz ist mit einer großen Menschenansammlung bevölkert
Lautsprecherstimmen sind zu hören, ab und zu dringen Wortfetzen hinüber zur Semperoper und dort in die Exedra
früher Abend

UNGER
Das war hier ja früher mal der Adolf-Hitler-Platz
Also zu meiner Zeit
Und heute ist ja irgendwie auch ein besonderes Datum
Neunter November Zweitausendundfünfzehn
Vor siebenundsiebzig Jahren

WINKLER
Reichskristallnacht

UNGER   fragend
Darf man das heute wieder sagen
Oder ist da gar nichts anstößiges dran
Reichskristallnacht
Eigentlich klingt das ja sehr schön
fragend
Oder nicht
Reichskristallnacht
Da ahnt man gar nicht was da wirklich passiert ist
wenn man jemandem nur diesen Begriff an den Kopf wirft
und ihn damit alleine lässt

WINKLER   fragend
So jemandem wie einem besorgten Bürger

UNGER
Wenn man das so einem sagt
Genau
Aber Ihr Tonfall gefällt mir gar nicht
schaut Winkler direkt an, fragend
Haben Sie ein Problem mit besorgten Bürgern

WINKLER
Keineswegs
Ich bin ja selbst besorgt
Besorgt zu sein ist durch und durch menschlich
Und das da unten sind ja alles Menschen
Irgendwie

UNGER   wieder nach unten auf den Theaterplatz schauend
Schade eigentlich
daß diese Menschen nicht mit uns reden wollten
vorhin
verjagt haben sie uns
tatsächlich
hätte ich mich gerne mit ihnen unterhalten
man weiß ja gar nicht mehr
wogegen sind diese Leute eigentlich
und wofür
sind sie überhaupt für etwas
oder nur gegen alles
Das kann ja sehr befreiend sein
wenn man gegen alles ist
Mein Arzt sagt immer
Fressen sie nicht immer alles in sich hinein
Damit meint er meine Sorgen
Und ich bin tatsächlich wegen vieler Dinge besorgt
Vielleicht habe ich genau die gleichen Sorgen wie viele dieser Leute da
Nur weiß ich es eben nicht genau
und deshalb stehe ich auch hier oben
mit Ihnen
und nicht dort unten
mit denen

WINKLER
Ein klein wenig macht Sie mir das sympathisch Unger

UNGER
Das ist sehr nett von Ihnen Winkler
Zuerst dachte ich nur
der ist auch so einer
so jemand der nicht zuhören will
der nichts wissen will von meinen Sorgen und Nöten
der Andersdenkende ausgrenzt
Doch dann haben Sie mich gerettet
und mich hier hoch gebracht
Ich kannte die Semperoper bisher nur von außen
Und dann führen Sie mich direkt hierher
zu dieser
Menschen auf dem Theaterplatz skandieren „Lügenpresse“, während Unger überlegt

WINKLER
Exedra

UNGER
Genau
Exedra
Von hier oben sieht alles gleich ganz anders aus
Dieser Blick über den Platz
beeindruckend
aber auch
beängstigend
Alle diese Menschen sind schwarz gekleidet
und sie wollten nicht mit mir reden
obwohl ich nicht zur Presse gehöre
und kein Politiker bin
Das mit der Lügenpresse habe ich ohnehin nie verstanden
zuerst habe ich gedacht
diese Leute meinen die Boulevardpresse
diese reißerischen Schlagzeilen
die anrührenden Geschichten
verpackt in drei Halbsätzen
und einem zum Himmel schreienden Bild
Aber dann ging mir ein Licht auf
Die meinten tatsächlich die etablierten
großen
Tageszeitungen
also die
die sie doch selbst gar nicht lesen
sie verteufeln die etablierten Tageszeitungen
und erfreuen sich weiterhin
an der Boulevardpresse
und Interviews
geben sie nur
der Boulevardpresse
Die meinten auch die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen
nicht etwa die der Privaten
sie verteufeln gerade die seriösen Journalisten
und verehren die mit den großen Buchstaben
fragend
Können Sie sich das erklären Winkler

WINKLER
Sie sprechen eben die gleiche Sprache
diese Boulevardmedien
wie diese Leute dort unten
So verkaufen sie ihre Zeitungen
Sie sprechen die Sorgen an
Die sogenannten seriösen Medien zerreden sie nur

UNGER
Aber den Boulevardmedien
sind die Sorgen der Bürger
doch noch egaler
als den seriösen Medien
fragend
Oder nicht

WINKLER
Doch doch
Das haben Sie schon richtig erkannt
Sämtlichen Medien geht es nur um den Absatz
Deshalb passen sich die sogenannten seriösen Medien
ja auch den Boulevardmedien an
Schauen Sie sich die Schlagzeilen an
Da sieht man überall nurmehr noch
diese reißerischen Schlagzeilen
Menschen auf dem Theaterplatz skandieren „Wir sind das Volk“

UNGER
Was ich auch nicht verstehe
Weshalb rufen diese Leute
eine Parole
die einst für die Öffnung von Grenzen stand
und nun soll sie dafür sorgen
die Grenzen zu schließen
Winkler will etwas sagen, doch Unger unterbricht ihn
Ich weiß schon
ich weiß schon
seufzt
Es geht nicht um die Grenzen
Es geht nur um ihre Sorgen
und die Regierung
die ihre Sorgen nicht kümmert
das war Neunzehnhundertneunundachzig so
und ist jetzt wieder so

WINKLER
Und genau deshalb verstehen diese Leute nicht
weshalb die Presse sie in die rechte Ecke stellt
und die Gegendemonstranten sie
als Nazis bezeichnen

UNGER   schaut etwas genauer in die Menge
Aber diese Leute sind alle schwarz gekleidet

WINKLER
Das machen sie
weil sie Sorgen haben

UNGER
Und der dort sieht schon ein wenig radikal aus
Glatze
und Springerstiefel
und Bomberjacke
eine Kapuzenjacke von Lonsdale
Der da auch
Und der dort auch
Und der
Der

WINKLER
Das sind keine Nazis

UNGER   fragend
Nicht

WINKLER
Nein
Das sind Linke
Das sind Gegendemonstranten
Lonsdale ist keine rechte Marke mehr
Die drucken ja mittlerweile Sprüche gegen Rassismus auf ihre Shirts
Und deutsche Kleidungsfirmen
auch große Ketten
vertreiben die in großem Stil

UNGER   fragend
Tatsächlich
Aber wer kann die denn dann noch auseinanderhalten

WINKLER   fragend
Die Rechten von den Linken

UNGER
Genau

WINKLER
Na
Im Grunde ja niemand
Wie auch niemand wirklich unterscheidet
Wer läuft da eigentlich mit bei Pegida
Wer spaziert da eigentlich jeden Montag Abend durch die Stadt
Sind es besorgte Bürger
Sind es Nazis
Sind es Linke als Nazis verkleidet
Sind es Nazis als Linke verkleidet
Sind es Polizisten inkognito
Im Grunde sind es ja alle
Und dann stimmt die Parole ja wieder
Wir sind das Volk
Die einen
weil sie spazieren gehen
Die anderen
weil sie nicht spazieren gehen wollen
aber trotzdem da sind
weil sie die
die spazieren gehen wollen
am spazieren gehen hindern wollen
Und dann gibt es die wirklichen Nazis
die niemand am spazieren gehen hindert
unter dem Deckmantel von Meinungsfreiheit
Gleichheit und
Brüderlichkeit

UNGER
Das alles ist schon sehr kompliziert
Wenn da Nazis mitlaufen
Oder spazieren gehen
wie immer die das nennen wollen
Und ihre eigene Sprache erinnert schon sehr an Parolen
von vorgestern
an meine Zeit im Grunde
Ich dachte diese Sprache sei gestorben
mit dem verlorenen Krieg
Aber scheinbar
braucht es nur zwei Generationen
um zu vergessen
oder etwas zu ersehnen
das man selbst nicht erlebt hat

WINKLER
In der Erinnerung
wird auch immer alles besser
Die schlimmen Geschehnisse werden verdrängt und vergessen
Die guten Geschehnisse werden glorifiziert und aufgewertet
Deshalb ist subjektive Erinnerung
schlechte Erinnerung

UNGER
Oder das mit der Reichskristallnacht
Man hat dieses Wort
und keine Erinnerung
und findet es plötzlich schön
und will es selbst auch erleben

WINKLER
Malen Sie nicht den Teufel an die Wand Unger

UNGER
Ich habe gehört
Die wollten sogar den Koran verbrennen
Diese zwölf Apostel von Pegida
steigern sich da wirklich in etwas hinein
Ich war da ja auch immer dabei
zu Beginn
Ich gebe das gerne zu
zu Beginn bin ich mit meinen Sorgen den Aufrufen gefolgt
Ich gehe auch gerne spazieren
normalerweise in der Dresdner Heide
am Sonntag
nach dem Mittagessen
Und ich hatte Sorgen
Also bin ich den Aufrufen gefolgt
Ich wollte wissen
teilen diese Leute meine Sorgen
kann ich da hingehen
bekomme ich vielleicht Antworten
Und tatsächlich
zu Beginn
waren die Forderungen
aufgrund der Sorgen
auch für mich noch verständlich
Kriegsflüchtlinge waren willkommen
Wirtschaftsflüchtlinge nicht
Menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge
kein Radikalismus
keine Haßprediger
Doch was ich mit der Zeit hörte
da war vieles radikal
und ganz viel Haß
plötzlich waren alle Ausländer illegal
Flüchtlingsheime brannten
Deutschland sei angeblich erwacht
und jeden Tag erwachten mehr
Da wollte ich plötzlich nicht mehr spazieren gehen
also
nicht mehr am Montag Abend
sondern wieder am Sonntag
nach dem Mittagessen
Diese Redner von Pegida
sprechen von Warnungen
und von Wahrheiten
die man doch wohl noch aussprechen dürfe
Was ich jedoch höre
habe ich schon einmal gehört
vor siebenundsiebzig Jahren
die gleichen Worte
angeblich Warnungen
doch nichts als Beleidigungen
Und Deutschland erwacht nicht
es geht schlafen
es verdrängt
während Pegida den Abend zum Tag macht
Menschen auf dem Theaterplatz skandieren „Volksverräter“

WINKLER
Sorgen zu haben
über den Verlust nationaler Identität und Kultur
über Glaubenskriege auf deutschen Straßen
über die Islamisierung Deutschlands
darauf kommt man ja nicht allein
erst recht nicht in einer Stadt
in Dresden
mit einem vergleichsweise niedrigen Anteil von Migranten
Menschen haben ja nicht nur Sorgen
vor allem haben sie Angst
vor dem was sie nicht kennen
was sie auch nicht kennenlernen wollen
aus erlernter Ignoranz
Was Neunzehnhunderteinundsechzig Propaganda der SED war
die Mauer als Schutz vor dem Westen
will Pegida nun
tatsächlich
aus eigenem Willen
wieder errichten
als Schutz vor
Islamisierung des Abendlandes
Ein bißchen ist es so wie mit dem Warten auf Godot
Samuel Beckett läßt Vladimir und Estragon warten
sie ahnen
da kommt ohnehin niemand
doch sie warten trotzdem gerne
vielleicht gerade weil niemand kommt
Und hier weiß jeder
dieser Godot kommt tausendfach
hunderttausendfach
was erwartet sie
sie wissen es nicht
und deshalb wollen sie nicht warten
Sie wollen die Mauer
um Godot auszusperren
die vielen hunderttausende Godots
denn Veränderung ist nicht gut
Es geht nicht um Angst vor Islamisierung
Es geht um Angst vor Veränderung
Denn was bedeutet den Deutschen schon das Christentum
wie viele Deutsche gehen noch in die Kirche
Was bedeutet den Deutschen ihre Kultur
wie viele Deutsche gehen ins Theater
lesen mehr als ein Buch im Jahr
besuchen wenigstens ein Museum im Leben
Nein
sie wollen kein Arabisch auf den Straßen hören
weil sie es nicht verstehen
Sie denken
dieser Araber plant gerade einen Bombenanschlag
dabei spricht er nur über das nächste Abendessen
Sie denken
diese Frau mit dem Kopftuch ist nicht frei
und zu Hause schlägt der Deutsche seine Tochter

UNGER
Ich gebe zu
so ähnlich sind meine Gedanken
Ich will mich nicht mehr verändern
in meinem Alter
Ich will daß alles seinen Gang geht

WINKLER
Und trotzdem stehen Sie jetzt mit mir
hier oben
nicht dort unten
fragend
Weshalb hat man Sie eigentlich vertrieben
An Ihrem Äußeren kann es nicht liegen
Sie sehen ja durch und durch
deutsch aus
ein normaler Durchschnittsdeutscher
mit Hornbrille
akkurat gekämmtem Haar
sogar ein wenig blond
wenn ich das richtig erkenne

UNGER
Eher grau

WINKLER
Na
es gereicht Ihnen nicht zum Nachteil
Also
fragend
weshalb wollten diese Leute Sie nicht bei sich haben

UNGER
Genau weiß ich es nicht
Aber ich denke
ich habe zu viele Fragen gestellt
Diese Leute
sie dachten wohl
ich gehöre zur Presse
Sie haben mir mehrfach gesagt
ich solle zuhören
und die Parolen rufen
aber ich solle keine Fragen stellen
Darauf habe ich gefragt
wieso denn nicht
und das war dann wohl
eine Frage zuviel

WINKLER
Ja
So fängt es immer an
Zuerst haben die Menschen Sorgen
Sie stellen fest
ich bin nicht der einzige
ich gehöre zu einer ganzen Gruppe von Menschen mit Sorgen
ich fühle mich sicher in dieser Gruppe
ich fühle mich stark
Und es geht schneller als gedacht
da muß ich keine Sorgen mehr äußern
da kann ich nur noch zuhören
ein paar griffige Parolen rufen
Das ist wie im Fußballstadion
dieses Gemeinschaftsgefühl
man schaut nur zu wie andere für einen selbst kämpfen
man schreit ein paar griffige Parolen
man feiert gemeinsam den Sieg
man trauert gemeinsam bei der Niederlage
Gut
nach der Niederlage schimpft man auf die Versager auf dem Platz
aber beim nächsten Mal
da kann man wieder schreien
und sich stark fühlen
gegen die anderen sein
ein gutes Gefühl
endlich auch außerhalb des Stadions
zu einer Gruppe zu gehören
Einige Parolen entsprechen vielleicht nicht so ganz den Sorgen
die einige Menschen zu Anfang geplagt haben
aber die da vorne
die wiederholen es so oft
bis es irgendwann
eigentlich doch
im Grunde
irgendwie
plausibel und richtig klingt
Und daß das hier mal der Adolf-Hitler-Platz war
daß heute
vor siebenundsiebzig Jahren
diese Pogromnacht stattfand
Wen kümmert das noch
und
wer weiß das schon noch
Geschichte findet an den Schulen ja kaum noch statt
Geschichte an den Schulen
das hieße ja sich erinnern
Wir wollen uns aber nicht erinnern
wir wollen vergessen
Wir wollen unser Leben leben
völlig ohne historische Belastung
Schließlich waren wir ja nicht dabei
damals

UNGER
Na
Ich war ja dabei
damals
Aber ich war noch ein Kind
und erinnere mich auch kaum noch
Aber diese Gemeinschaft war schon schön
als Kind glaubt man ja viel mehr was einem gesagt wird
Man stellt auch Fragen
aber man glaubt viel mehr
Und irgendwann stellt man einfach keine Fragen mehr
und glaubt nur noch

WINKLER
Wie das bei Religionen eben so ist

UNGER   fragend
Sie meinen
Pegida ist eine Religion

WINKLER
Ich kann nur hoffen
daß wir es dazu nicht kommen lassen.


        © Dominik Alexander / 2015


Seit ich den Einakter geschrieben habe, sind mehr als sieben Jahre vergangen. Von Pegida hört man zum Glück kaum noch etwas. Gegenwärtig geht es auch mehr um Corona, Ukraine-Krieg, Inflation und ungeeignete Staatsminister. Dennoch ist das Thema des Stücks weiterhin relevant: Viele Menschen fühlen sich nicht mitgenommen, nicht verstanden oder ihrer Lebensleistung beraubt. Wir müssen wieder mehr miteinander reden – vor allem über die Komfortgrenzen hinweg.

Denn was nützt es, in der eigenen kleinen Filterblase stets einer Meinung zu sein, wenn die Realität für die meisten anderen Bubbles ganz anders aussieht? Miteinander reden, sich gegenseitig zuhören und verstehen – darum geht es. Und nicht etwa darum, den anderen zwingend von der eigenen Meinung zu überzeugen, sondern ausschließlich darum, sich miteinander auszutauschen.

Mitläufer werden immer Mitläufer bleiben, wenn sie nicht auch einmal zu Wort kommen dürfen. Und wer ein offenes Ohr hat, öffnet im zweiten Schritt vielleicht auch sein Herz.

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