Der längste Mond

Alles wäre so einfach
Ohne Gedanken im Kopf.

~ ~ ~ ~

Von feuchten Tiefen
Nach oben auf den Berg
Die Hellerberge in rotem Licht
Im Westen das Abendrot
Im Osten der Blutmond
Die Augen des Nichts gerichtet
Auf alles
Auf die Wolkendecke
Die den Mond irgendwann
Aus ihren Fängen entläßt
Im Rausch der Zeit
In der Ewigkeit
Am Boden ein Rasseln
Kellerasseln.

~ ~ ~ ~

Regenbogensonnenuntergänge sind magisches Leuchten ohne Raum und Zeit. Der Betrachter verliert den Bezug zu seiner nahen Umgebung. Ab und zu verliert er sich sogar selbst. Das sind die besten Regenbogensonnenuntergänge. Ein sanftes Vibrieren liegt in der Luft. Der Duft von Apfelbäumen; vergnügtes Zirpen der Heuschrecken im Juli.

Regenbogensonnenuntergänge beginnen mit den rot verfärbten Wangen eines Verliebten. Das frische Grün erinnert dich an Spaziergänge durch duftige Wiesen im Morgentau. Hell gelb ist der feine Sand am Strand von Nordzypern.

Mit dem leuchtenden Orange der süßen Frucht zur Weihnachtszeit schiebt sich die Sonne unter den Horizont ihres belebten Trabanten bis in das tiefe Blau der Tiefsee hinein, das du weit draußen auf dem Wasser von einem kleinen Boot aus siehst. Was bleibt, ist die violette Umgebung mit kleinen blinkenden, bunten Lichtern. Wie der seidige Brokat des Weltenherrschers sich über ihn legt, offenbart er uns Welten, die du ausschließlich beim Beobachten eines Regenbogensonnenuntergangs zu erfassen vermagst.

~ ~ ~ ~

Dunkle Schatten gegen das Abendrot
Kommen näher in tanzenden Schritten
Schlanke Körper straucheln inmitten
Der Schönheit, die sie stetig bedroht.

Schöne Männer mit großen Hunden
Ein Telephonat, das den Blutmond stört
Doch Mars und Saturn gebietend betört
Es wird kühl zu diesen Stunden.

Astro-Alex gleitet blinkend vorüber
Unter ihm fließt bitterer Orangensaft
Der die offene Atmosphäre schafft
In der Wärme ignoriert er das Fieber.

Alle Gedanken sind gerichtet aufs Dort
Der Mond schiebt sich schweigend hinan
Weil er einfach nicht anders kann
Da ist kaum Schweigen an diesem Ort.

Nach Mitternacht ist der Blick wieder frei
Dem schönen Mann ist das einerlei.

~ ~ ~ ~

Das Blut des Mondes ist
der Schatten meiner Seele,
der über meinem Körper
und vor deinen Augen hängt.

~ ~ ~ ~

— Ich denke, wir sollten uns außerhalb der Arbeit nicht mehr sehen.
— Weshalb sagst du sowas?
— Weil es die einzige Möglichkeit ist, mich nicht umzubringen.
— Aber sind unsere Dates nicht auch schön für dich?
— Nicht danach. Weil ich danach darüber grüble, weshalb ich dich geboxt habe und nicht mich an dich gekuschelt. Weil ich mich frage, weshalb ich deine Füße nicht massiert habe, sondern stattdessen gesagt, daß ich Füße nicht ausstehen kann. Weil ich mich frage, weshalb ich dich nicht mal als Erster umarme.

~ ~ ~ ~

Gibt es einen Unterschied zwischen Innehalten bei einer Wanderung und im stetig Vorwärtsgehen?

~ ~ ~ ~

— Ich habe gesagt, daß ich mich nicht in dich verliebt habe.
— Das hast du. Als du noch gedacht hast, daß ich Frauen mag. Weshalb also hätte ich es seitdem nicht wieder versuchen sollen? Welcher Grund hat mich dazu veranlaßt, es nicht zu tun? Dich stattdessen zu Dates einzuladen und dich währenddessen immer weiter von mir wegzustoßen?
— Vielleicht magst du mich ja doch nicht so sehr, wie du denkst.
— Im Gegenteil. Ich fürchte mich davor, dir meine Zuneigung zu zeigen, weil du mich dann auch als Mann fortstoßen könntest. Also mache ich das lieber gleich selbst.
— Für mich bist du noch kein Mann, aber ich möchte dich gerne kennenlernen.
— Könntest du mich denn lieben, wenn ich nach außen der bin, der ich innerlich bereits mein gesamtes Leben lang war?
— Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen, weil das Äußere für mich als Mensch mitentscheidend ist und etwas, das ich sehen muß, mir nicht vorstellen und danach entscheiden kann. Was ich aber bereits jetzt weiß ist, daß du mich nicht für dich gewinnen kannst, indem du mich von dir wegboxt.

~ ~ ~ ~

Besteht ein Unterschied darin, von jemandem angesprochen zu werden und andererseits jemanden anzusprechen?

~ ~ ~ ~

— Vielleicht bin ich längst dazu bereit, mich gehen zu lassen, dich einfach machen zu lassen. Weshalb sonst nehme ich in letzter Zeit deine Einladungen an? Weshalb sonst bin ich gerne mit dir im Dunkeln?

~ ~ ~ ~

Das Ergebnis ist oft dasselbe: Zwei Menschen unterhalten sich. Ob sie sich sympathisch sind, entscheidet zuweilen erst das Gespräch selbst.

~ ~ ~ ~

— Diese Treffen funktionieren so nicht, weil ich dich liebe und du das weißt. Ich dagegen weiß nicht, was du von mir hältst. Ich weiß nur, daß ich dir zu grob bin, zu robust, zu aufgesetzt männlich. Magst du denn nicht jemanden, an den du dich ab und zu anlehnen kannst? Ständig bist du für andere da, hörst dir Probleme an und Sorgen, versuchst jedes Problem zu verstehen und die Sorgen zu mindern. Du strahlst gute Laune aus, oft auch dann, wenn dir gar nicht danach ist. Du sehnst dich nach Aufmerksamkeit von schönen Männern, die dich gar nicht beachten, deine Hilfe jedoch gerne annehmen.

~ ~ ~ ~

Doch besteht nicht bereits ein gewisser Grund an Sympathie, wenn man anspricht oder angesprochen wird?

~ ~ ~ ~

— Bei mir könntest du fordern, doch du hast verlernt, wie das geht, weil dein Leben darin besteht zu geben, statt ab und zu auch mal zu nehmen.

~ ~ ~ ~

Es muß etwas geben, was das Ansprechen oder Ansprechenlassen intendiert resp. initiiert. Das ist oft das Aussehen der Person. Oder in menschenleeren Gegenden, daß überhaupt ein anderer Mensch da ist, dessen Gemeinschaft der Andere sucht, vor allem nach längerer Zeit allein.

~ ~ ~ ~

— Laß los, mein Freund. Die Schultern zwischen meinen Gedanken sind für dich da:
        zum Anlehnen;
        zum Weinen;
        zum Festhalten;
        zum Lachen;
        zum Kuscheln;
        zum Küssen.
                Such dir etwas aus;
                Mach den ersten Schritt –
                Ich werde da sein.

~ ~ ~ ~

Kein Mensch ist sich selbst genug. Nach einer gewissen Zeit braucht jeder Mensch die Gesellschaft und Gemeinschaft eines anderen Menschen.

~ ~ ~ ~

Schauspieler sein
Am besten ohne Text
Pantomime sein
Perfekt!
Die Zuschauer erfreuen
Mit den eigenen Gefühlen
In den Bewegungen des Körpers
Noch besser:
Regisseur sein
Andere bestimmen
Nicht selbst bestimmt werden
Panik!
Wenn Selbstbestimmung zu entgleiten droht
Warum?
Warum nicht mal gehen lassen?
Einen anderen bestimmen lassen?
Erleben, was geschieht
Mit dem Selbst
Mit dem Anderen
Mit der Umgebung
Stattdessen
Lieber Schauspieler sein
Und das Selbst vergessen.

~ ~ ~ ~

Ich sehe dich an, aber nicht so, wie ich es fühle. Ich sehe dich an mit dem Wissen, daß du mich so siehst, wie ich aussehe, nicht wie ich bin.

~ ~ ~ ~

Doch was ist, wenn du auf den ersten (zweiten) Schritt wartest? Wenn du sensibel und vorsichtig bist, weil du nicht glaubst, daß ich bereit für dich bin? Oder ist es lediglich Mitleid, das dich meine Datevorschläge annehmen läßt? Mehr als zuvor? Oder sind meine Dates mittlerweile akzeptabel geworden? Nicht so schlimm vergeistigt wie noch vor geraumer Zeit? Siehst du mich am Ende als ein Projekt, bei dem wir beide nicht wissen, was am Ende herauskommt?

~ ~ ~ ~

Ein Flugzeug stürzt ab, schlägt am Boden auf. Eine Feuersbrunst umwölkt das Metall. Der graue Rauch verschlingt den Brand und offenbart das wallende, blonde Haupthaar von Veronika Ferres mit gerettetem Kind an der wogenden Brust. Ihre großen, blauen Augen sind sorgenvoll auf das Kind gerichtet. Dann jedoch dreht sich ihr Mund, zum spöttischen Schmollen gekräuselt, nach links oben in Richtung gleißend heller Sonne und zieht das Kinn mit sich. Die Szene scheint wie eine Shampoo-Werbung, nur deutlich dramatischer und mit passender Musik untermalt.

~ ~ ~ ~

Will ich aus mir denn einen Anderen machen lassen? Jemanden, der ich gar nicht bin? Oder will ich nicht lieber ein Anderer werden? Jemand, der ich bin, den die anderen jedoch noch nicht sehen? Weshalb glaubst du denn, daß ich hart bin und meine Gefühle nicht zeige? Weil ich genau so scheine. Und es doch nicht bin. Ich wollte stets so scheinen, wie ich äußerlich nicht war, wie ich äußerlich (noch) nicht bin. Betont männlich, um bei ein paar mehr Menschen die Illusion zu bewahren, daß ich auch innerlich bin, der ich nach außen vorgebe zu sein. Ein Schauspiel, das Kraft kostet.

Wenn aus dem Schauspiel plötzlich Realität wird, dann verliert sich der Schauspieler selbst. Habe ich mich verloren? Kann ich mich wiederfinden? Glaube mir, es gibt mich noch. Ich brauche nur die Zeit, um mich auf die Reise in mein Inneres zu begeben, um mich von dort an die Oberfläche zu holen. Für alle sichtbar. Für dich sichtbar. Dann magst du entscheiden. Auch wenn es dann bereits zu spät sein könnte.

~ ~ ~ ~

“Was hast du bloß?” fragte Paul. Doch so lange Paul auch wartete, Alex antwortete nicht. Alex starrte den roten Mond an und tat so, als hätte er Pauls Frage nicht gehört.

Paul stupste Alex sanft an die Schulter, und als Alex ihn doch noch ansah, legte Paul den Kopf schief.

“Ist es wegen vorhin?” fragte Paul nun. Im roten Mondlicht sah Paul richtig niedlich aus, dachte Alex, sagte das aber nicht. Immerhin lächelte er Paul kurz an, als er ihm doch noch antwortete.

“Hm,” machte er nur. Es war mehr ein Knurren, hörte sich aber wie eine Bestätigung an. Nun mußte auch Paul lachen, weil das so typisch für Alex war. Diesmal knuffte er Alex in den Oberarm.

“Du hast doch hoffentlich nicht geglaubt, daß du hier oben mit mir allein sein würdest, oder?” fragte Paul. Jetzt ließ sich Alex für seine Antwort weniger Zeit.

“Nein, denn dafür ist das Ereignis zu bedeutend. Jeder will den Blutmond sehen – sogar Erik,” sagte Alex und verdrehte die Augen.

“Sogar Erik,” versuchte Paul den Tonfall von Alex nachzuahmen, “wie du das sagst. Erik ist mein Freund. Ich werde ihm ganz sicher nicht verbieten, dort zu sein, wo wir sind.”

“Könnten wir beide nicht irgendwohin gehen, wo Erik nicht ist? Bloß für diese Nacht?” fragte Alex und schaute Paul mit seinen großen, blauen Augen an. Das konnte er gut. Paul dachte kurz nach. Dann kam ihm eine Idee in den Sinn.

“Wir könnten uns an einen der beiden Rucksäcke hier hängen. Das fällt bestimmt nicht auf,” schlug Paul vor.

Alex mochte die Idee, so daß beide sie sogleich in die Tat umsetzten. Irgendwie schafften sie es, in einen der beiden Rucksäcke zu krabbeln.

Nach einer gewissen Zeit in der Dunkelheit landeten sie hart auf einem Fliesenboden. Von dort hob sie jedoch jemand sanft auf und setzte sie in ein Paradies aus Pflanzen und Blüten.

“Da seid ihr ja!” rief plötzlich eine Stimme neben Paul und Alex, die es sich gerade gemütlich machen wollten. “Ich dachte schon, ich hätte euch auf ewig an den Hellerbergen verloren.”

“Erik!” riefen Paul und Alex beinahe gleichzeitig aus, doch in jeweils unterschiedlichem Tonfall.

Dann versuchten die drei Asseln auf dem grünen Balkon irgendwie miteinander auszukommen.

~ ~ ~ ~

Die respektloseste Ausrede: Ich bin eben so.

                        –finis.


        © Alexander der Kleine / 2018

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