Der Tod kommt. Unweigerlich. Er ist das Ende des irdischen Lebens. Für einige der Anfang des Ewigen; für andere der Abschluss des Seins. Doch wie geschieht der Tod, wenn er ein natürlicher ist? Was bedeutet er für den Sterbenden? Und was für die Hinterbliebenen? Eine Bestandsaufnahme.
Herbert Feuerstein ist tot. Das war am 6. Oktober 2020 zunächst nur eine Nachricht unter vielen. Corona, Trump, Arzach etc. sei Dank! Die Information hätte leicht untergehen können. Ein paar lieblos verfasste und schon lange vorbereitete Nachrufe wären veröffentlicht und ebenso schnell wieder vergessen worden. Doch Herbert Feuerstein wäre nicht er selbst gewesen, wenn er für die Nachwelt nicht etwas vorbereitet hätte. Den einzig gültigen Nachruf hat er selbst verfasst, zusammengestellt und als Podcast bereits 2015 eingesprochen. Beinahe zwei Stunden lang erinnerte der WDR am 7. Oktober 2020 an den – nennen wir ihn der Einfachheit wegen – Entertainer.
Auch meine Oma ist in diesem Jahr verstorben, bereits am 16. Juni 2020. In einem Altersheim. Mit sehr wenig Besuch in ihren letzten Monaten. An Heiligabend 2019 habe ich sie zum letzten Mal besucht. Bei 120 Kilometern Entfernung zwischen uns war es spontan nicht möglich. Und Telefonieren war bei ihrer Schwerhörigkeit irgendwann auch nicht mehr sinnvoll. Unser letztes Telefonat endete damit, dass sie mir sagte, sie würde kaum etwas verstehen, und dass sie mich nicht aufhalten wolle. Bei wichtigen Dingen. Dabei war sie es gewesen, die mir in dem Moment am wichtigsten war.
Die Angst vor dem Vergessenwerden
Weshalb schreibt jemand seinen eigenen Nachruf? Weil er die ewig gleichen Plattitüden und Floskeln kennt. Dieses notwendige Übel, das Journalisten wenigstens mit einem Dreizeiler erwähnen müssen: dieser Mensch war einmal unter uns; dies und das hat er hinterlassen; jenes hat ihn ausgezeichnet. Die Bilder von Verstorbenen sind stets schwarz und weiß. Denn der Tote hat offenbar keine Farbe mehr. Farbe bedeutet Leben. Und wer ein schwarz-weißes Bild eines Menschen sieht, weiß noch vor Überschrift und Text: ach, der ist gestorben? Ich dachte, der wäre längst tot.
Mit dem eigenen Nachruf kann sich ein Mensch noch einmal ins rechte Licht rücken. Er kann sich so darstellen, wie er sich selbst gesehen hat. Wie ihn andere gerade nicht kannten. Was die üblichen Nachrufer vergessen hätten zu erwähnen. Oder nicht wussten, ob es erwähnt werden sollte, durfte.
Ich muss gestehen, dass ich Herbert Feuerstein nur im Zusammenhang mit Harald Schmidt kannte. Dass er um dieselbe Zeit wie Thomas Bernhard am Salzburger Mozarteum Cembalo studierte, dass er viele Jahre der Liebe wegen in New York verbracht hatte und dass er Chefredakteur der deutschen Ausgabe der US-amerikanischen Satire-Zeitschrift »MAD« war – all das war mir bisher verborgen gewesen. Und sicher hätte ich es bis heute nicht gewusst, hätte Herbert Feuerstein nicht seinen eigenen Nachruf verfasst.
Die Angst vor der eigenen Nutzlosigkeit
Noch einmal einen Kontrapunkt setzen, einen dramatischen Schlussakkord wie in einem klassischen Musikstück – das war die Sache meiner Oma nicht. Sie war katholisch und glaubte gewiss an das ewige Leben nach dem Tod. Doch im Diesseits nützlich sein zu dürfen, war ihr mindestens ebenso wichtig; der Familie mit Rat und Tat zu helfen, für Freunde und Nachbarn ein offenes Ohr zu haben, aktiv am Leben teilzunehmen.
Meine Oma hatte bereits seit einigen Jahren Krebs. Eine stationäre Behandlung hat sie aber abgelehnt. Stattdessen hat sie ihr Schicksal, wie sie es wohl ausgedrückt hätte, in Gottes Hände gelegt. Mein Opa, ihr Mann, war bereits 1997 verstorben. Bis zuletzt hat ihn meine Oma gepflegt. Zu Hause. Mein Opa wollte nicht im Krankenhaus sterben. Und meine Oma wollte ihn dort nicht sterben lassen.
Bis zuletzt für andere da sein. Das war wohl der Wunsch meiner Oma. Der ihr nicht vergönnt war. Ihre Kinder, meine Mutter, Tante und Onkel, haben es gut gemeint. In einem Pflegeheim sollte sie ihre letzten Jahre genießen. Doch nicht eigenverantwortlich zu sein, von anderen abzuhängen, mit fremden Menschen zusammen eingesperrt zu sein – wie sie es empfand – das hat ihr Leben wohl am Ende verkürzt. Sie fühlte sich nutzlos, nicht mehr gebraucht und einsam. Ein Ende, das nicht hätte sein müssen.
© Dominik Alexander / 2020
Kolumne 666 besteht aus eben so vielen Worten. Dabei werden zwei Themen miteinander verwoben, die vordergründig kaum etwas miteinander zu tun haben. Ein Thema ist aus dem Pool an Schlagzeilen der vergangenen letzten Tage entnommen; das andere Thema entstammt meiner eigenen Biographie. Kolumne 666 ist ein serienhafter Kommentar zum Zeitgeschehen und soll zum Nachdenken mit anschließender Diskussion anregen; entweder hier oder im eigenen Bekanntenkreis.
