Straßenbahn Nummer Sieben

Heute darf ich endlich wieder in die Schule gehen. Papa bringt mich zur Straßenbahn und sogar meine beiden kleinen Geschwister kommen mit.

Gemeinsam stehen wir an der Straße. Vor mir liegt weicher, schmutziger Schnee, durch den ich gleich durch muss.

Da kommt die Straßenbahn. Mein Herz schlägt plötzlich schneller. Ich schaue zu Papa hoch, zu meinem kleinen Bruder und meiner noch kleineren Schwester. Alle drei lächeln mich an.

»Du schaffst das«, spricht aus ihren Augen.

Als ich wieder zur Straße schaue, hält die Straßenbahn an. Die Türen öffnen sich. Ich konzentriere mich darauf, gut durch den Schneematsch zu kommen.

Geschafft!

Die nächste Hürde ist der hohe Einstieg zur Straßenbahn. Doch auch das gelingt mir problemlos. Ich bleibe direkt bei der Tür stehen.

»Damit du beim Aussteigen nicht von den Erwachsenen geschubst wirst«, hat Papa gesagt.

Ich halte mich gut fest und drehe mich zur Tür. Die ist schon wieder geschlossen. Doch Papa und meine Geschwister kann ich noch sehen. Sie winken mir. Ich winke ihnen zurück.

Dann fährt die Straßenbahn los.

»Dreimal Türöffnen«, hat Papa gesagt.

»Beim dritten Türöffnen musst du aussteigen.«

Ich konzentriere mich. Und bemerke gar nicht, wie jemand an meiner Schlüsseltasche fummelt.

Irgendwann riecht es seltsam von oben. Etwas warmes beugt sich über mich.

Ich muss mich doch aufs Zählen konzentrieren.

Doch Wärme und Geruch nehmen zu. Sie lenken mich ab.

Ich schaue von der Tür weg nach vorn.

Da fummelt tatsächlich eine Hand an meiner Schlüsseltasche herum. Die Tasche hängt um meinen Hals. Da ist alles drin, was wichtig ist. Ein Zettel mit Namen, meiner Adresse und Telefonnummer; mein Glücksbringer; etwas Geld für Essen.

Ich schaue nach, zu wem die Hand gehört. Es ist ein alter Mann mit großer Nase und vielen roten Furchen im Gesicht. Er schaut mich direkt an und murmelt etwas, das ich nicht verstehe.

Er ist mir ganz nahe, als er den Druckknopf meiner Schlüsseltasche öffnet. Er versucht, mit seinen dicken Fingern hineinzugreifen.

Ich weiß nicht, was ich machen soll.

Weshalb greift der Mann in meine Schlüsseltasche? Darf er das denn? Ich schaue mich vorsichtig um. So viele andere Menschen sind hier. Aber alle schauen aus dem Fenster. Oder auf ihre Handys. Niemand schaut in meine Augen.

Ich versuche, mich von dem Mann wegzudrehen. Doch dabei kommt er mir immer näher. Mein Herz schlägt plötzlich wieder schneller. Viel schneller als vorhin.

Dann hält die Straßenbahn an. Eins. Die Finger des Mannes lassen meine Schlüsseltasche los. Er drückt sich an mich. Dann an mir vorbei. Fällt beinahe nach draußen. Dann schließen sich die Türen wieder. Der Mann steht draußen. Ich schaue auf meine Füße. Seine Augen will ich nicht noch einmal sehen.

Die Straßenbahn fährt weiter. Jetzt sind nicht mehr so viele Menschen hier. Papa hat gesagt, ich soll bei der Tür bleiben. Aber da fühle ich mich nicht mehr sicher. Deshalb suche ich mir einen Sitzplatz. Eine Viererbank, wo sonst kein anderer Mensch sitzt.

Ich schaue mich kurz um. Und schaue in die Augen eines anderen Mannes. Er sitzt auch allein. Auf der anderen Viererbank.

»Hat dir der Mann etwas weggenommen?« fragt er mich.

Ich schaue nach unten in meine Schlüsseltasche. Der Druckknopf ist noch geöffnet. Ich glaube, es ist noch alles darin. Deshalb schüttle ich meinen Kopf.

Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich damit die Frage richtig beantwortet habe.


        © Dominik Alexander / 2021

passengers_tram_Strassenbahn_Beine_crowded_panorama
© Free-Photos (image)

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