Kolumne 666: Kaitz

Kaitz ist wie ein winziges beschauliches Dorf. Es schmiegt sich an die laute B 170 und wird gleichzeitig von ihr beschützt. Vor der Stadt Dresden. Seit 1921 ist Kaitz eingemeindet. Doch das spürt man im Grunde kaum.

»Mehr muss man von Kaitz nicht wissen.« Das hatte ich etwas lapidar mit Blick auf den prominent aufgestellten Stein des Geschichtsvereins Kaitz verlautbaren lassen. Nur fünf Jahreszahlen sind dort eingemeißelt, darunter die Ersterwähnung des Ortes 1206 und die 800-Jahr-Feier. Just in diesem Moment ging eine ältere Frau an uns vorbei. Und entrüstete sich. Das könne ich doch so nun auch wieder nicht sagen. Denn Kaitz sei so viel mehr als auf diesem Stein steht.

So kommen wir ins Gespräch. Sie sei nach den Bombenangriffen am 13. / 14. Februar 1945 von der Dresdner Neustadt nach Kaitz gebracht worden. Von und mit ihren Eltern. Damals war sie erst zwei Jahre alt gewesen. Nie hätte sie sich vorstellen können, so lange in Kaitz zu bleiben. Und nun hatte sie bereits ihr gesamtes Leben hier verbracht. Am Ende unseres Gesprächs stellten wir fest, dass wir zwischen 1977 und 1980 beinahe direkte Nachbarn gewesen sind. Wir wohnten an derselben Straße, schräg gegenüber.

Glück zu!

Das »Glück auf!« des Bergmanns ist das »Glück zu!« der Müller. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts gehörte der Müllergruß zum Alltag im Kaitzgrund. Insgesamt fünf Mühlen gab es hier: Kuchenmühle, Waltersmühle, Zschachlitzmühle, Hofemühle und Mockritzer Mühle. In alten Dokumenten ist die Idylle förmlich spürbar. Von lustig klappernden Mühlen entlang des beliebten Wanderweges steht da zu lesen. Wer wollte, konnte sich an Krebsen und Fischen aus dem Kaitzbach laben, Wein von den umliegenden Weinbergen genießen oder bei Kaffee und Kaitzer Mohnkuchen pausieren.

Diese Idylle verschwand ab 1890 Schritt für Schritt. Zuerst wurde der Mühlenbetrieb eingestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Mühlen durch die Bodenreform teilweise enteignet, die alten Besitzer ausgewiesen und nach Rügen deportiert. Ab 1950 veränderte die Uranerz-Aufbereitungsanlage SDAG Wismut in Dresden-Gittersee auch das Aussehen des beschaulichen Stadtteils Kaitz. In den Kaitzbach wurde Uranschlamm gekippt; die Kuchenmühle ist darunter verschwunden. Unter dem in die Landschaft geschütteten Hügel der ehemaligen Halde A der Wismut zwängt sich der Kaitzbach heutzutage durch einen 800 Meter langen Stollen.

Erinnerung auf der Tränenwiese

Wie viele andere Erinnerungsorte im Dresdner Süden zeigen, beginnen langsamer Verfall und einschneidende Veränderungen mit einer konkreten Jahreszahl: 1813. Auf dem Weg zur alles entscheidenden Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober hinterließ Napoleon seine zerstörerischen Spuren kurz zuvor vom 26. bis 27. August bei der Schlacht um Dresden. Die Scharmützel gegen die Allianz aus Österreich, Preußen und Russland waren in Kaitz vor allem hörbar. Denn auf der bereits damals »Tränenwiese« genannten Gräbenwiese war notdürftig ein Verbandsplatz eingerichtet worden.

Heute erinnert an das Trauma, die damals totale Zerstörung von Kaitz, ein Denkmal, errichtet am 200. Jahrestag der Schlacht. Die damalige Frontlinie verlief nicht weit von hier. Verwundete wurden ohne Narkose operiert oder amputiert. Die Schreie will man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Das Denkmal ist daher nüchtern gehalten. Drei Stelen mit den Schriftzügen der lose Alliierten erinnern an das brüchige Zweckbündnis. Die zwei in den rechten Hausgiebel der nahegelegenen Hofemühle gemauerten Kanonenkugeln sind da weitaus eindrücklicher.

Nostalgie am Kaitzbach

Als wir die Frau getroffen haben, kam sie gerade vom Einkaufen. In Kaitz gibt es keine Lebensmittelläden mehr. Aber drei Autohäuser, wie sie extra betont. Deshalb müsse sie mit dem Bus zur Südhöhe fahren. Zum Kaufland. Das hätte aber wiederum sein Gutes. So käme sie regelmäßig raus und unter Menschen. Man müsse ja immer alles positiv sehen. Sonst würde man ja verrückt.

So lange sie es könne, würde sie ihre Einkäufe selbst erledigen. Und, ja, trotz allem gefalle es ihr in Kaitz noch immer. Von dort, wo sie wohnt, sind es nur ein paar Schritte bis zum Kaitzbach. Hier gibt es noch etwas Freifläche, viel Grün. Wer die in der Ferne vorbeifahrenden Autos ausblenden kann, hört an einem warmen Frühlingstag vielleicht sogar die Mühlen wieder klappern. Als Echo aus der Vergangenheit. Im Alter kann man sich etwas Nostalgie erlauben.


        © Dominik Alexander / 2021


Kolumne 666 besteht aus eben so vielen Worten. Dabei werden zwei Themen miteinander verwoben, die vordergründig kaum etwas miteinander zu tun haben. Ein Thema ist aus dem Pool an Schlagzeilen der vergangenen letzten Tage entnommen; das andere Thema entstammt meiner eigenen Biographie. Kolumne 666 ist ein serienhafter Kommentar zum Zeitgeschehen und soll zum Nachdenken mit anschließender Diskussion anregen; entweder hier oder im eigenen Bekanntenkreis.


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