I
Alles wurde schon probiert
Alles tausendfach ins kleinste
Korrigiert
Repariert
Kartographiert
Einsortiert
Kleinkariert wollen sie das Leben haben
Und sich daran laben
Dass sie alles verstehen
Wer sind sie?
Immer nur die anderen
Mit denen ich nichts zu tun haben will
Die aktuellen Medienbubbles
Gleichen einem Overkill
Habe mich zurückgezogen
Will nichts mehr posten
Will mich nicht darstellen
Oder mich ausstellen lassen
Fame für fünf Sekunden
Shitstorm fürs Leben
Aber das auch nur im Virtuellen
Du selbst trägst dein Alter Ego
Auf die Straßen
Wenn du nur noch fotografierst
Doch dich gleichzeitig genierst
Einfach mal nur zu schauen
Und zu genießen
Wie die Blumen sprießen
Wie etwas riecht
Wie etwas schmeckt
Anecken willst du
Aber nur im Virtuellen
Weil’s da immer nur in eine Richtung geht
Raus
Raus
Raus
Austeilen
In der eigenen Blase
Bis zur Ekstase
Bis zum Super-GAU
Größter Anzunehmender Unsinn
Raus
Raus
Raus
Ist am Ende doch immer nur ein
Rein
Rein
Rein
Du engst dich ein
Immer weiter
Dabei nie heiter
Immer schneller
Gehst zum Denken in den Keller
Änderst deine Meinung
Wie der Algorithmus sie dir vorgibt
Und verschiebt
Ins Radikale
Ins Irrationale
Wer bist du?
Ein Knotenpunkt im Netz der Daten
Unter Waldschraten
Fühlst du dich wohl
Solange sie dich lieben
Von vorn
Von hinten
Von unten
Von oben
Schauen sie dir zu
Und gibst du mal Ruh’
Weil du schlafen musst
Schiebst du Frust
Noch im Traum
Dieser Männertag ist für dich
Ein gedeckter Tisch
Du bedienst die Männermassen
Mit Thementassen
Mit Rabatten
Mit Bier
Mit Prozenten
Hier
Dort
Da
Niedere Instinkte
Bedienst du
Denn sie sind für dich da
Wenn die Männer grölen
Wenn Frauen ihre Haut einölen
Lassen was hält
Wo ist die Welt
Wie sie mir gefällt?
Ist es das Rationale
Das Emotionale
Oder etwas dazwischen
Ohne dir jetzt einen Schwachsinn aufzutischen
Frage ich dich
Was ist die Welt?
II
Ist sie alles
Ist sie nichts
Dazwischen gibt es…
Setzen wir uns aus
Sehen wir neonfarbene Laufschrift
In Städten an Gebäuden
An denen wir vorbeilaufen
In Zügen zeigt sie die aktuelle Außentemperatur
Wofür brauchen wir das nur?
Im Kleinen sollen wir zu Hause sparen
Während draußen die Verschwendung jeden anspringt
Der hinschauen will
Meistens ist sie jedoch so alltäglich
So irrelevant
Dass wir sie nicht mal vermissen würden
Gäbe es sie nicht mehr
Stattdessen sollen wir mal wieder den Waschlappen benutzen
Woher kommt das Geld?
Von den Menschen
Und wenn es fehlt?
Können wir vom Menschen gemachte und erdachte Dinge nicht nutzen
»Die Toilette im mittleren Zugteil ist aktuell nicht benutzbar.
Das habe ich bereits Momente vor der Ansage gerochen
Der Zug ist ein Glutofen
Fenster lassen sich nicht öffnen
Ich warte auf die nächste Ansage:
»Liebe Fahrgäste, leider ist unsere Klimaanlage ausgefallen. Wir bitten um Verständnis, wünschen Ihnen aber dennoch eine supi Fahrt.
Der Zug ist das
Was in der Realität nicht mehr vorkommen soll
Also in der wirklichen Realität
In der da draußen
Also in der virtuellen
Im Zug kommen alle Gesellschaftsschichten zusammen
Bubbles sind kaum möglich
Außer mit dem Deutschlandticket
Deshalb starrt jeder zweite auf sein mobiles Endgerät
Sein sogenanntes Smartphone
Während Rentnergruppen sich dem verweigern
Und so tun
Als wäre die Bahnrealität die wahre
Die richtige
Indem sie miteinander durcheinander reden
Das ganze garniert eine traumatisierte Katze in ihrem Käfig mit ihrem rhythmischen Klagelied
Der Zug ist selbst ein Käfig
Der durch blühende Landschaften rollt
So wie durch dieses Gedicht
Man riecht Ausdünstungen von Menschen
Vom defekten Klosett
Auch das menschengemacht
Ich erwische mich dabei
Wie ich mir ein Auto wünsche
Oder wenigstens die erste Klasse im ICE
Das Leuchtband über meinem Kopf deutet an
Dass es draußen kälter wird
Frische siebzehn Grad
Frische grüne Landschaft melden meine Augen
So fühlt sich der rollende Käfig noch schwitziger an
Auf heute Abend bin ich gespannt
Wenn bei all diesen Leuten das Deo nicht mehr wirkt
Sie Döner gefressen haben
Selbstverständlich mit viel Zwiebel und Knoblauchsauce
Und nun aus allen Poren stinken
Alkohol gesoffen
Nun das Klo vollkotzen
Und kurz darauf die nette Durchsage säuselt:
»Liebe Fahrgäste, die Toilette im mittleren Zugteil ist aktuell leider nicht benutzbar. Wir bitten um Verständnis.
Nicht etwa um Verzeihung oder
Wir kümmern uns darum
Denn Techniker sind selbstverständlich nicht an Bord
Wahrscheinlich wird das heute nicht mehr repariert
Möglicherweise auch nicht mehr in diesem Monat
Doch Zugeinheiten sind rar these days
Also darf er weiterhin mit
Und an der Toilettentür im mittleren Zugteil schreit den
Lieben Fahrgästen
Lieben Reisenden
Lieben, ach, wieso soll ich heucheln, ihr wisst doch, was ihr seid
Ein kleines schmuckloses Papierschild entgegen:
NICHT BENUTZBAR
Das Klagelied der Katze wird lauter
Die Katze überhitzt
Wird bald versuchen
Die Käfigtür einzurennen
Wird scheitern
Es aber nicht wissen
Und es weiterversuchen
Bis sie tot in sich zusammenfällt —
III
Was ist die Welt?
Wie sie einem jeden Menschen gefällt
Wir kommen in sie hinein
Wir gehen in ihr auf
Lassen uns berieseln
Von all den Kieseln
Die ganz sacht
Über die Pfade des Landes gleiten
Bei Tag
Bei Nacht
Vor allem aber in den Schwebezuständen
Im Dämmerlicht
In dem du schweben kannst
Vom einen in den anderen Zustand hinein
Der Dämmer ist das Wesen dieser Welt
Ohne Zeit
Ohne Geschwindigkeit
Hier kannst du einfach sein
Auch mal ganz allein
Ohne dazugehören zu müssen
Ohne ausgeschlossen zu sein
Wer ist die Zeit?
Dein Begleiter
Deine Seele
Die alles weiß
Die alles sieht
Noch bevor etwas geschieht
Dein Tröster in der Not
Das allerschönste Abendrot
Wenn du es brauchst
Die Zeit ist unsere Welt
Denn wir durchschreiten sie
Unterm sternblinkenden Himmelszelt
Wir suchen
Und wir staunen
Nicht nach Schubladen
Nicht nach Weiß oder Schwarz
Nicht nach Gut oder Böse
Sondern nach dem Individuellen
Authentisch soll der Mensch sein
Doch wer es ist
Wird nicht verstanden
Oder versteht sich selbst nicht
Wird dann
Analysiert
Seziert
Repariert
Einsortiert
In die Schubladen
Von denen wir uns doch
Eigentlich
Verabschieden wollten.
© Dominik Alexander / 2023
Wunderbar – wie immer! Und die Schubladen haben immer Saison. Pete Seeger sang vor 50 Jahren von Little Boxes – da haben wir geschmunzelt, über die Spießer….
Individuell geht schon, light halt. Also so Jeans mit Löchern oder veganer Burger oder individuelle T-Shirt Aufdrucke. Soviel an Individualität ist möglich, aber es muss immer Aufmuepfige geben, denen nicht einmal das genügt…
.
LikeLiked by 1 person
Im Grunde ist es ja ganz einfach: Wer niemandem schadet, kann sein Ding gerne durchziehen. Und wem das nicht gefällt, muss sich mit demjenigen dann nicht abgeben. Leben und leben lassen. Immerhin haben wir nur das eine (soweit wir wissen). Da sollte jeder das beste aus sich machen dürfen, was auch immer er dafür hält.
LikeLiked by 1 person