Kolumne 666: #allesdichtmachen

Sarkasmus darf, laut Kurt Tucholsky, alles. Doch ist er in Zeiten von Corona angebracht? Darf man sich mit beißendem Spott über die Krise lustig machen? Oder grenzt es eher an Zynismus, wenn fünfzig Schauspieler in gewisser Weise vorschlagen, dass es uns allen doch bitte so schlecht gehen soll wie ihnen, obwohl ihr Schlechtes für Krankenschwestern und Verkäuferinnen ein durchaus Gutes wäre? Der Versuch einer Einordnung.

Bis ich meine Meinung über eine Angelegenheit in die Welt hinausschreie, pflege ich zunächst über das Thema nachzudenken. Pro und Contra werden notiert, gegeneinander abgewogen und schließlich überlegt, welcher Seite ich zuneigen soll, mit welchen Argumenten. Denn ich will, dass meine Meinung auf festem Boden fußt, dass sie sicher darauf stehen kann und nicht sofort einbricht, sobald ein anderer meiner Meinung seine Argumente entgegensetzt oder auch nur in einer bestimmten Weise darauf reagiert.

Zuweilen bekomme ich den Eindruck, dass andere Menschen ohne nachzudenken ihre Meinung äußern, etwas behaupten, um gehört zu werden oder einfach nur als Schnellster auf eine Nachricht zu reagieren. Manchmal denken Menschen aber auch zu lange über eine Sache nach. Sie haben vielleicht erkannt, dass sie besser gar nichts sagen sollten, wollen jedoch trotzdem irgendeinen Beitrag leisten, damit ihr Nachdenken nicht völlige Zeitverschwendung gewesen ist. Nach dem Motto: Lieber mal wieder gehört werden, auch wenn es der Gesellschaft nicht gut tut, als weiterhin und mit jedem Tag immer mehr festzustellen, wie irrelevant man eigentlich ist.

Sarkasmus in Zeiten von Corona

Normalerweise mag ich Jan Böhmermann nicht. Sein Humor ist mir zu fäkal und zu plakativ, zu sehr auf eine bestimmte Zielgruppe zugeschnitten, zu der ich nicht gehöre. Doch auch ich muss ihm zugutehalten, dass er wenigstens nach oben tritt. Zudem hat er sich negativ zur Wunder-Video-Aktion »Alles dicht machen« geäußert, für die fünfzig Schauspieler Kopf, Stimme und Gehirn hergegeben haben, weil sie scheinbar gerade nichts mit sich anzufangen wissen.

Überhaupt habe ich in den vergangenen Monaten im Grunde täglich mehrfach gehört oder gelesen, wie unfrei wir alle seien. Wie beschnitten in unseren Grundrechten. Wie eingesperrt. Wer heutzutage seine Empfindungen nach außen trägt, setzt sie nicht mehr in die erste Person Singular, sondern in die erste Person Plural. Das soll wohl eine Gemeinschaft suggerieren, nach der sich viele zur Zeit sehnen. Oder sehnen sie sich nur nach dem Publikum? Weshalb sich an der Aktion #allesdichtmachen auch ausschließlich Schauspieler beteiligt haben.

Zynismus als Hilfeschrei nach Liebe

Was ist ein Schauspieler ohne Bühne, ohne Publikum, ohne Text, ohne Maske? Ach nein, die Maske hat er noch. Doch die tragen wir ja jetzt alle. Der Schauspieler ist nichts besonderes mehr. Er fühlt sich nicht mehr gesehen, nicht gehört, nicht gewürdigt, nicht geliebt. Das ist wie Drogenentzug. Denn zurückgeworfen auf sein Ich abseits der Arbeit muss er nun plötzlich mit sich selbst auskommen. Viele Schauspieler sind ja gerade deshalb Schauspieler, weil sie genau dem entgehen wollten. Sie wollen andere spielen, um nicht sie selbst sein zu müssen.

Durch die Aktion hatten sie nun erneut ein wenig Aufmerksamkeit. Allerdings als sie selbst. Hatten sie die zynischen, als ironisch behaupteten Texte selbst verfasst? Vielleicht nicht. Doch gesprochen haben sie sie als sie selbst. Und schienen nun völlig überrascht davon, keinen Applaus zu ernten. Endlich wieder da; doch leider keine Liebe mehr.

​Aus #allesdichtmachen wird #allenichtganzdicht

Statt Zuspruch und widerspruchsfreiem Teilen des Hashtags #allesdichtmachen hagelte es überwiegend negative Kritik und gar den Gegen-Hashtag #allenichtganzdicht. Die Steilvorlage konnte auch schlecht ausgelassen werden. Aus der Distanz betrachtet kann letztlich der Schluss gezogen werden, dass Humor, der im zynischen Gewand daherkommt, in einer ernsten Pandemie mit Tausenden Toten unangebracht ist.

Die Aktion mag nicht rechts im Sinne einer politischen Gesinnung gewesen sein. Eines aber war sie in jedem Fall: unfassbar dämlich. Auch weil es gezeigt hat, dass Schauspieler eben nur dann gut sind, wenn sie den Text, den sie sprechen sollen, nicht als sie selbst sprechen, sondern in einer Rolle. Denn die ist fiktional, nicht in der Realität. Ist etwas in der Realität, muss es ernst genommen werden. Und während einer Pandemie wird Ironie dann eben zum weltfremden Zynismus.


        © Dominik Alexander / 2021


Kolumne 666 besteht aus eben so vielen Worten. Dabei werden zwei Themen miteinander verwoben, die vordergründig kaum etwas miteinander zu tun haben. Ein Thema ist aus dem Pool an Schlagzeilen der vergangenen letzten Tage entnommen; das andere Thema entstammt meiner eigenen Biographie. Kolumne 666 ist ein serienhafter Kommentar zum Zeitgeschehen und soll zum Nachdenken mit anschließender Diskussion anregen; entweder hier oder im eigenen Bekanntenkreis.

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© Gerd Altmann (image)

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