Goette, Ranft, Mesgarha

Von seinem Stück Draußen vor der Tür war Wolfgang Borchert einst überzeugt, dass es niemand spielen wollen würde. Mein Stück Goette, Ranft, Mesgarha wird wahrscheinlich wirklich nicht gespielt. Oder in einem Verlag veröffentlicht. Oder sonst irgendwie einem Publikum zugeführt. Deshalb soll es wenigstens hier erscheinen. Weil ich es selbst, immer wenn ich beginne, es zu lesen, bis zum Ende nicht aufhören kann. Weil ich es noch immer gleichzeitig komisch und gesellschaftskritisch finde. Weil ich nicht will, dass es nur in meinem Schrank ein ungesehenes Dasein fristet.

Ursprünglich gedacht war das Stück als Hommage an Albrecht Goette. Bis die Coronamaßnahmen in Deutschland sämtliche Theateraufführungen vor Ort jäh untersagt hatten, war ich beinahe einmal pro Woche im Theater zugegen, besuchte insbesondere die Adaption Alte Meister nach dem Roman von Thomas Bernhard in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden durchaus regelmäßig. Darin in kongenialem Zusammenspiel zu erleben: Albrecht Goette und Ahmad Mesgarha.

Irgendwann hatte ich Albrecht Goette nach einer Lesung angesprochen. Zuvor war mir mal wieder verstärkt aufgefallen, dass Feedback oft nur geäußert wird, wenn etwas nicht so gut war, etwas nicht gefallen hat. Also wollte ich zur Abwechslung positives Feedback geben. Aus den prognostizierten fünf Minuten wurde eine halbe Stunde. Wir unterhielten uns über Feedback, Theater und Thomas Bernhard. Dann lud er mich für die nächste Vorstellung der Alten Meister ein. Da Albrecht Goette im Jahr 2020 seinen 70. Geburtstag feierte, wollte ich ihm im latenten Stil von Thomas Bernhard etwas zurückgeben.

Zu Entstehung und Intention

Zuerst sollte es so etwas wie Minetti werden; am Ende wurde es so etwas wie Ritter, Dene, Voss. Weil mir für ein Ein-Personen-Stück keine passende Handlung einfiel. Mit drei Personen klappte es dann, zumal ich zwar spät, aber immerhin, auch Torsten Ranft als Theaterschauspieler für mich entdeckt hatte. Geschrieben hatte ich das Dramolett rasch, in etwa zwei Wochen. Dann druckte und bastelte ich etwas zusammen, das ich Albrecht Goette schließlich schenkte. Mein Traum ist noch immer, dass die drei Schauepieler “ihr” Stück selbst aufführen. Doch Albrecht Goette hat mir erkennbar zu verstehen gegeben, dass das nicht passieren wird. Andererseits können die Namen auch als Platzhalter verstanden werden. Je nachdem, wer die Rollen übernimmt, sind die Namen entsprechend austauschbar.

Da bisher lediglich eine physische Version des Stücks existierte, habe ich in den vergangenen Tagen eine Onlineversion erstellt. Das heißt, ich habe meine Bastelvariante digital nachgestellt. Der Link dazu findet sich mehrfach auf dieser Seite. Über Feedback freue ich mich sehr. Ladet das Stück also bitte nicht nur runter, sondern lasst mir wenigstens ein paar Worte dazu da. Vielen Dank! Direkt hier veröffentliche ich die drei längeren Monologe, die jeder der drei Charaktere / Schauspieler innerhalb des Stücks bekommen hat. Das soll als Leseprobe dienen und hilft vielleicht bei der Entscheidung, ob sich der Download und damit die Lektüre des gesamten Stücks lohnt.

Monolog: Goette

Komatös
Porös
Wechselhaft
Stehen wir am Abgrund
Haben wir einen schönen Überblick
Wohin?
Worauf?
Worüber?
Das Leben ist doch
Wenn man ein wenig darüber nachdenkt
Meinetwegen auch an einem Abgrund stehend
Ein bedenkliches
Einen Schritt nur nach vorn
Und wir haben es überstanden
Um das Leben müssen sich dann
Andere bekümmern
Und tun es doch nicht
Denn wer bekümmert sich denn heute noch
Um das Leben?
        zeigt ins Publikum
Sie?
Sie?
Oder Sie?
Nun
Das können Sie gerne behaupten
Dennoch sage ich:
Fake News!
Alternative Facts!
Keiner von Ihnen bekümmert sich um das Leben
Sie alle bekümmern sich nur um den Tod
Je mehr Geld Sie im Leben angehäuft haben
Umso monströser wird Ihre Grabstätte sein
Ein ewiges Denkmal?
Ein Mausoleum vielleicht?
Prachtvoll verziert
Mit Gold bemalt
Serifenschrift als tiefe Lettern in Marmor getrieben
Jeden Tag frische Blüten in Blumenvasen
Sich totarbeiten
Für den ewigen Ruhestand
Das Ideal:
Herzinfarkt am letzten Arbeitstag
Und danach sofort ins Mausoleum
Ewige Ruhestätte
Für die toten Überreste?
Aber keineswegs!
Für die Vorübergehenden
Für die Stehenbleibenden
Je größer sie ist
Umso länger bleiben sie stehen
Denn umso reicher war der Verblichene bei seinem Ableben
Es kann selbstverständlich sein
Dass die sogenannten Hinterbliebenen
Die am Leben gelassenen
Die weiter leben Dürfenden
Oder Müssenden
Je nachdem
Das Testament missachten
Doch je reicher jemand ist
Je bekannter
Umso geringer ist dieses Problem
Selbstredend
Werde ich dieses Problem nicht haben
Denn ich bin reich
Und bekannt
Vielleicht nicht beliebt
Aber das war mir noch nie ein Anliegen
Auf jeden Fall bekannt
Und das ist das wichtigste
Der bekannteste Mensch wird nicht hintergangen
Zu seinen Lebzeiten wird es versucht
Doch diese Leute
Leben bekanntlich nicht sehr lange
Doch diese Leute
Müssen sich allerdings auch nicht
Um ein Mausoleum bekümmern
Diese Leute haben meine Sorgen nicht
Was ich mir schon den Kopf zerbrochen habe
In den vergangenen Jahren
Hatte ich kaum noch Zeit
Für meine Regierungsgeschäfte
Weil ich mir tagtäglich
Den Kopf zerbrochen habe
Um die richtige Gestaltung
Meiner Grabstätte
Selbstverständlich
Habe ich hier und da ein Machtwort gesprochen
Doch mehr ist auch gar nicht nötig
Hier und da ein Machtwort
Und schon geht alles wieder seinen guten alten sozialistischen
        Pause; besinnt sich
Nein
Nein
Das ist der falsche Text
Immerzu falle ich an dieser Stelle
In den falschen Text
Das ist ja das Leid des Schauspielers
Generell
Vor allem
Wenn er noch jung ist
Dann hat er mehrere Rollen
Gleichzeitig im Kopf
Immerzu muss er etwas behalten
Was doch gar nicht seines ist
Schizophrene Persönlichkeit
Und zuweilen
Wenn es eine starke Rolle ist
Eine staatstragende
Gewissermaßen
Drängt sie sich
Vor allem
Wenn der junge Schauspieler
Gerade dabei ist
Eine seiner eher schwächeren Rollen
Darzubieten
Dem sogenannten Publikum
Im Vordergrund
Das sogenannte Publikum
Sitzt ermüdet vor ihm
Die Scheinwerfer blenden den Schauspieler
Doch die sogenannten Zuschauer
In den ersten Reihen
Schauen gar nicht zu
Die Scheinwerfer blenden ihn
Doch auch ohne die Scheinwerfer
Hätte der junge Schauspieler
Keinen Blickkontakt aufnehmen können
Seine Wirkung zeigt sich nicht
Spricht er den Text
Einer schwachen Rolle
Gibt es keine Wirkung
Keine Reflexion
Kein Nachdenken
Nicht einmal das
Ist in den Augen der sogenannten Zuschauer
Sichtbar
Denn alle sogenannten Zuschauer
Insbesondere
In den ersten Reihen
Haben die Augen geschlossen
Sie dösen vor sich hin
Schlafen vielleicht
Träumen sogar
Von einem stärkeren Text
Von einem besseren Stück
Und in dieser Ereignislosigkeit
Vielleicht
Um die sogenannten Zuschauer wachzurütteln
Drängt sich der starke Text
Und mit ihm
Die umso stärkere Rolle
An die Oberfläche
Manchmal
Bemerkt es der Schauspieler sofort
Wenn in den ersten Reihen
Die sogenannten Zuschauer
Erschrocken
Ihre Augen aufreißen
Um tatsächlich wieder Zuschauer zu sein
Plötzlich
Findet da etwas statt
Etwas hat sich verändert
Sie fühlen sich im Schlaf gestört
Plötzlich gibt es da vorn
Einen bedeutenden Text
Nachdenken ist gefordert
Auseinandersetzung
Wach sein müssen
Zwangsweise
Wenn sie doch einfach nur entspannen wollen
Auf einen Schlag sind sie aus ihren Träumen gerissen
Und nehmen es dem Schauspieler übel
Alles in allem
Bin ich doch auch nur
Schauspieler
Sie sehen mich
Und sehen einen Schauspieler
Sie sehen keinen König
Wenn Sie mich ansehen
Manche Menschen
Erkennen vielleicht
Im Schauspieler einen König
Und umgekehrt
Nicht jedoch das denkende Publikum
Ein Publikum
Das auch bei schwächeren Rollen
In schwächeren Stücken
Nicht schläft
Ein solches Publikum hört nur den Text
Es sieht Bilder
Und setzt beides in Gedanken zusammen
Nimmt beides getrennt auf
Filtert die Worte
Trennt sie von Oberflächlichkeiten
Und macht sich eigene Bilder

Monolog: Ranft

Es war nicht mein Wunsch
Mich nun in dieser Position zu befinden
Sie haben mich dazu gedrängt!
Diese Krone ist viel zu schwer für mich
Sie erdrückt jeden vernünftigen Gedanken
Wie haben Sie das nur so lange aushalten können?
Nein!
Antworten Sie nicht!
Ich kann es mir denken
Man wächst ja in jede Rolle hinein
Wenn man sich damit abfindet
Wenn man der Geschichte einfach ihren Gang lässt
Eine Rolle akzeptieren
Für die man bestimmt ist
Zuerst wehrt man sich
Weil die Verantwortung zu groß ist
Die Rolle zu bedeutend
Diese Rolle ist doch gar nicht auszufüllen
Denkt sich der Mensch
Die Krone ist doch viel zu schwer!
Aber es bleibt einem ja nichts anderes übrig
Als das eigene Schicksal zu akzeptieren
Denn je höher man sitzt
Und als König sitzt man schließlich
Ganz oben
Umso tiefer fällt man
Bei einem Misserfolg
Einer Fehlentscheidung
Oder
Bei Ablehnung der eigenen Rolle
Ist man als Schauspieler erst einmal König
Ist es eigentlich auch schon vorbei
Denn was soll danach schon noch kommen?
Höher geht es nicht mehr
Nur noch herunter
Der Sturz geht ja schnell
Und endet in den meisten Fällen tödlich
Wenn man Glück hat
Aufstieg
Höhepunkt
Der jeweils individuelle Fall
Naturgemäß
Nun im besten Fall Herzinfarkt
Und Ende
Eine pompöse Beerdigung
Bei der so getan wird
Als hätte man den Fall des Schauspielers
Nur kurze Zeit vorher
Nicht miterleben müssen
Geheuchelte Bewunderung
Und unwürdiges Hofieren
Die Übel der Welt
Niemand sagt mehr die Wahrheit
Weil es sie gar nicht gibt
Zu jeder Zeit
Wird etwas anderes
Für die Wahrheit gehalten
Und doch ist immer nur das Wahrheit
Was die Obrigkeit dafür ausgibt
Das Gesetz ist Wahrheit
Wer sich nicht gesetzeskonform verhält
Lügt
Wer gegen das Gesetz agiert
Ist ein Terrorist
Das mag auf den ersten Blick
Einleuchtend sein
Und ist es doch nicht
Wenn man genauer hinschaut
Ist alles nur
Perfide Heuchelei
Marktwirtschaft!
Welch großes Wort!
Angebot und Nachfrage
Der Markt reguliert sich selbst
Was Erfolg hat und Absatz findet
Bestimmt der Kunde
Und der Kunde ist König
Bin also auch ich nur Kunde?
Ein Konsument?
Gefangener im endlosen Kreislauf der Marktwirtschaft?
Ich sitze auf meinem Thron
Und bestimme den Markt?
Es wäre schön
Wenn dem so wäre
Wenn ich als König
Diese Macht wirklich hätte
Dann gäbe es so einiges nicht mehr
Neue iPhones gäbe es nur noch
In jedem zehnten Jahr
Keine Erdbeeren mehr
Im Winter
Die überschüssigen Apfelsinen in Spanien
Würden an die Armen verteilt
Jede bereits stillgelegte Bahnstrecke
Würde ich sanieren
Und wieder in Betrieb nehmen
E-Scooter würde ich rigoros verbieten
Eine Maßnahme
Die auf Beobachtungen der ersten Monate Praxisbetrieb beruht
Jeder Mensch dürfte nur noch
Höchstens zehn Jahre seines Lebens
Ein Auto führen
Doch all das ist ja nicht möglich
Und weshalb?
Weil der König eben gerade nicht König ist
Tatsächlich ist er der niedrigste Sklave
Ein König ist
Der unfreiste Mensch unter der Sonne
Und er ist noch viel weniger frei
Bei Nacht
Wenn er noch nicht lange König ist
Muss er seinen Helfern und Untergebenen beweisen
Dass er seinen Thron zurecht besetzt
Er muss neue Verordnungen und Gesetze erlassen
Eine neue Wahrheit schaffen
Und sie durchsetzen
Notfalls mit Gewalt
Er darf nicht zögern
Auch enge Freunde zu opfern
Alles auf Grundlage
Und zur Etablierung
Der neuen Wahrheit
Doch wann endet diese erste Zeit?
Niemals!
Die Zügel müssen immerzu
Dauerhaft
Straff gehalten werden
Denn die Untergebenen lauern geradezu
Auf eine Schwäche
Nur eine kleine Unachtsamkeit
Um den gewaltsamen Sturz des Königs
Rechtfertigen zu können
Und sich selbst auf den Thron zu setzen
In Wirklichkeit ist der König
Der unfreiste Mensch
Und das machtloseste Geschöpf

Monolog: Mesgarha

Vielleicht glauben Sie wirklich
Was Sie sagen
Vielleicht haben Sie tatsächlich
Nur Gutes im Sinn
Doch wissen Sie
Was ich in diesen Ihren Worten
Hauptsächlich höre?
Ich!
Ich!
Ich!
Das Gute
Das Sie für die Menschen wollen
Ist das Gute
Das Sie für das Gute halten
Doch ist das auch das Gute
Für die Menschen?
Gehen Sie raus auf die Straße
Sprechen Sie mit Ihren Untergebenen
Hören Sie sich an
Was die Menschen wollen
Wenn sie es Ihnen wirklich ehrlich sagen
Und Ihnen nicht nur
Aus purer Furcht vor der Obrigkeit
Oder vor Konsequenzen
Nach dem Munde reden
Und Ihnen das sagen
Was sie glauben
Das Sie gerne hören wollen
Dann werden Sie feststellen
Dass Ihr Gutes
Und das Gute Ihrer Untergebenen
Kaum bis gar nichts
Miteinander zu tun haben
Was wollen denn die jungen Menschen heute?
Was ist Ihnen wichtig?
Das Auto ist längst kein Statussymbol mehr
Das Smartphone ist es
Und das kann herumgetragen werden
Am besten wird es benutzt
Vom Beifahrer
Noch besser in Zügen
In Bussen
In Straßenbahnen
Und was wollen die alten Menschen heute?
Ja
Sie wollen und müssen
Mobil sein
Doch brauchen sie dafür ein eigenes Auto?
Ja
Sie brauchen es
Weil es keine Alternativen gibt
Für Fahrten von der Haustür
Bis zum Arzt
Bis zu den Geschäften
Bis zur Seniorengruppe
Die es im eigenen Ort nicht mehr gibt
Jedenfalls ist das auf dem Land so
Dort brauchen die alten Leute ein Auto
Aber wollen sie es auch?
Die Frage stellt sich nicht
Wenn es keine Alternative gibt
Welche Schlüsse müsste ein König
Wie Sie
Aus alldem ziehen?
Wenn er den gerade Weg wählt
Von A nach B
Ohne Umwege
Würde er dann nicht auf den öffentlichen Nahverkehr setzen?
Würde er nicht Fahrgemeinschaften fördern?
Doch das macht der König nicht
Weil er abhängig ist
Von der Autoindustrie
Deshalb gibt es den Umweltschutz
Nur mit dem Auto
Als E-Auto
Prämien gibt es nur für Menschen
Die sich ein neues Auto kaufen
Nicht etwa für Menschen
Die dem Auto abschwören
Und sich beispielsweise
Eine Jahreskarte für die Bahn kaufen wollen
Sie können gerne Individualist sein wollen
Doch können werden Sie es nicht


Download | Goette, Ranft, Mesgarha (PDF, 9.303 KB)


        © Dominik Alexander / 2023

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