Kennt ihr das auch?

Artikel, Satirebeiträge oder sonstige Texte, die an ein Publikum gerichtet sind und mit der Frage des Titels beginnen, also üblicherweise verbal und direkt kommuniziert werden, schalte ich ab oder blättere ich weiter. Denn was folgt, ist meist irgendein Stereotyp, das auf jeden Fall jeder im Publikum fast täglich erlebt.

Kennt ihr das auch? Da wacht ihr morgens auf, dreht euch nochmal um, weil ihr noch nicht aufstehen wollt und schwupps ist es eine Minute später und ihr schafft den Bus nicht mehr rechtzeitig zur Arbeit. Alle im Publikum haben das schon erlebt. Der einzige, der das wahrscheinlich lange nicht erlebt hat, ist der Typ, der die Frage gestellt hat.

Oder auch: Kennt ihr das auch? Vor kurzem hatte ich die Autoschlüssel meines Ferraris verlegt und musste den viel langsameren Lamborghini nehmen und schwupps hält mich die Polizei in Monaco an, weil ich angeblich zu schnell gefahren bin. Tja, wer kennt es nicht? Vermutlich niemand im Publikum. Und der Typ, der die Frage gestellt hat, auch nicht.

Im ersten Fall will der Sprecher mit einer billigen Plattitüde alle ins Boot holen; im zweiten Fall will er sich zu den anderen in deren Boot setzen.

Kennt ihr das auch? Ist die einfachste und damit armseligste Form der versuchten Verbrüderung, die wenigstens bei mir stets nach hinten losgeht. Bei Kennt ihr das auch? bin ich weg. Denn sitze ich in einem Publikum, sitze ich da, weil ich den Künstler erleben will. Ich sitze nicht da, um als Teil des Publikums wahrgenommen zu werden. Und erst recht nicht will ich mich verbrüdern. Nicht mit dem Künstler. Nicht mit den einzelnen Gliedern der Masse, in der ich gezwungenerweise sitze. Erst recht nicht mit Künstler UND Masse.

Ich habe Geld bezahlt, um entweder unterhalten zu werden oder auf neue Gedanken aufmerksam gemacht zu werden. Ich habe nicht dafür bezahlt, mit einer Frage wie Kennt ihr das auch? erniedrigt zu werden. Denn das schlimmste an dieser Frage ist, dass sie rhetorisch gemeint ist und damit manipulativ eingesetzt wird. Das Publikum soll gar nicht antworten. Es soll nur fühlen. Sich dem Sprecher angehörig. Und was kann man gegen einen Angehörigen schon vorbringen? So wird eine Verwandtschaft suggeriert, die bis knapp über das Ende der Veranstaltung hinaus wirkt. Man äußert sich zu den Veranstaltern und anderen zahlenden Gästen positiv, schreibt positive Rezensionen ins Gästebuch oder anderes, was unmittelbar mit der Veranstaltung zu tun hat.

Ist man erst zu Hause und hat seinen kühlen Kopf erneut bei sich, bauen sich die Nachwirkungen der Manipulation langsam ab. Man geht früh zu Bett, um den sich nun langsam aufbauenden Selbsthass in Schlaf zu ertränken. Am nächsten Morgen gibt es Kaffee. Und den Kollegen bei der Arbeit erzählt man, was das für eine großartige Veranstaltung gewesen sei gestern Abend. So ein grandioser Künstler. Den solltet ihr auch mal… Aber die Karten werden immer teurer… Gefragter Typ… So ein großartiger Typ. Also wirklich! Danach holt man sich dann einen extra starken Kaffee und erträngt den langsam wieder an die Oberfläche schwappenden Selbsthass in Arbeitswut.

Gerne würde ich einmal laut nach vorn auf die Bühne brüllen: Nein, kenne ich nicht! Sobald die Frage in meinem Beisein gestellt würde. Allerdings bin ich bei derartigen Veranstaltungen selten zu finden. Jedenfalls nicht live in irgendeinem Publikum. Im Zeitalter von YouTube, Streaming und Heimkinoanlagen bin ich selbst ein ganzes Publikum, und der Finger ist schneller am Aus-Knopf, als die besagte Frage vollständig gestellt werden könnte.

Kennt ihr…

Und tschüss! Laptop aus, Buch auf oder Notizbuch gezückt. Den Frust direkt aus dem Kopf geschrieben.

Es ist einfach, sich in einer Masse zu verstecken, so zu tun, als würde man dazugehören. Durch so einfache Mittel wie auf eine Frage mit Applaus oder auch nur anerkennendem Grummeln zustimmend zu reagieren. Ausbrechen gehört nicht zum Einzelnen in einer Masse. Schließlich hat man bezahlt, um den Künstler zu erleben. Gehört dazu auch, alles abzusegnen, was er von sich gibt?

Einige Zuschauer verlassen ein Theaterstück in der Pause, wenn es ihnen nicht gefällt. Einige verlassen es während der Aufführung. Aus unterschiedlichen Gründen. Manchmal haben die gar nichts mit dem Stück oder der Aufführung selbst zu tun.

Doch ist eine künstlerische Darbietung denn nur noch Geben und dankbares Nehmen? Sollte es nicht ein Hin und Her, eine Auseinandersetzung, ein Miteinander, vielleicht sogar Gegeneinander sein?

Statt mit Kennt ihr das auch? einfach mal zu starten mit Das kennt ihr jetzt garantiert nicht. Denn dafür bin ich hier, um es euch zu erzählen. Und dann können wir darüber kontrovers diskutieren. Wer es aushält und bis zum Schluss bleibt: dem stelle ich mich.

Dann würde ich auch wieder ins Theater gehen.


        © Dominik Alexander / 2023

8 Comments Add yours

  1. Als ich noch auf Rock und Pop ansprang, war ich auch ein paar Mal bei einem Konzert: “I can’t hear you!!!” Meute brüllt bejahend, dass sie sich gut fühle. Irgendwann wurden dann die Feuerzeuge geschwenkt, aber da war ich schon weg. “Kinder, seid ihr alle da?” Hat der Kasperl in der Kindheit gefragt. Verbruederung. “Wollt ihr den totalen Krieg” hat ein Nachfolgekasperl gefragt.

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    1. Mein letztes Konzert habe ich letztes Jahr in Berlin besucht. Wollte den Künstler einfach nur mal live erlebenm. Habe mich aber in der Masse so deplaziert gefühlt. Alles massenhafte ist mir zuwider. Nicht mal nur, weil es mich an den Nationalsozialismus erinnert. Kapitalismus oder Sozialismus sind ebenso widerwärtig. So langsam denke ich, dass es keine funktionierende (jedenfalls auf lange Sicht) Regierungsform gibt, weil jede von ihnen vom Menschen pervertiert wird. Oder anders: die Theoretiker denken sich das immer so gut aus, aber die Praktiker setzen es anders um, als es ausgedacht war, meist zu ihren eigenen Gunsten. Und die Massen laufen hinterher, weil es gut verkauft wird.

      Kurz gesagt: Alle Massenphänomene sind mir massiv (!) suspekt und ich werde nie verstehen, dass Menschen gerne auf Züge springen, die bereits anfahren, aber nicht wissen, wohin es eigentlich geht.

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  2. Selbstredend geht es mir genauso. “Masse und Macht” von Elias Canetti ist dazu sehr zu empfehlen.

    Zum letzten Satz von Dir, fällt mir natürlich sofort Helmut Qualtinger ein (Der Halbwilde) : “I hob zwoar ka Ohnung wo i hinfoahr, aber dafür bin i gschwinder duat”.

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    1. Von Elias Canetti kenne ich bisher nur “Die Blendung” und “Die Stimmen von Marrakesch”. “Masse und Macht” habe ich schon lange auf dem Zettel; doch dann kamen immer wieder andere Bücher dazwischen. Werde es jetzt aber endlich mal angehen! Danke auch für das sehr passende Zitat.

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      1. Die beiden Bücher finde ich ebenso sehr gut. “Masse und Macht” stoesst in eine ganz andere Dimension vor, finde ich.

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        1. Andere Dimension ist ein gutes Stichwort. Wie hältst Du als Österreicher es mit Thomas Bernhard? Insbesondere beim Gastlandauftritt bei der Leipziger Buchmesse konnte ich erfahren, dass der Hass seiner Landsleute auf ihn nicht mehr allzu tief sitzt, was mir vor allem an drei Punkten zu liegen scheint: 1) Die jüngere Generation kennt ihn nicht mehr als Lebenden; 2) Sein immer längeres Dasein als Toter; 3) Der schnöde Kommerz.

          Da Thomas Bernhard der Autor / Dichter / Schriftsteller ist, den ich am liebsten lese (und höre), bin ich gespannt auf Deine Meinung.

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          1. Als ich mich als Jugendlicher, trotz Schulbesuchs, für österreichische Literatur zu interessieren begann, war Thomas Bernhard einer, der mich natürlich beschäftigte. Heute ist mein Blickpunkt differenzierter, aber das wäre schwer in ein paar Sätzen zu fassen.

            Überrascht war ich dann aber immer wieder, als ich feststellte, wie groß seine Fangemeinde in Ländern wie China und Japan ist (war).

            Ja, die ordinären Österreicher habe sich über ihn empört, diesen Nestbeschmutzer. Kann mir aber nicht vorstellen, dass die meisten dieser Empörten überhaupt in der Lage sind, Literatur zu verstehen.

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            1. Ja, das stimmt. Wer sich da hauptsächlich beschwert hat, war sehr deutlich, insbesondere in der Dokumentation zu “Heldenplatz”. Leider war es schon damals so, dass die Presse das Polarisierende gern aufgegriffen hat. Die Lauten werden eben gehört, während die Stillen schweigen.

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