Dresden Grundstraße, stadtauswärts. Mit dem Fahrrad

Es zieht sich wie beim ersten Mal
Die andern ziehen an mir vorbei im dämmrigen Licht
Mich stört das nicht

        Lächeln
        Atmen
        Lächeln

Bei jeder langen Steigung denke ich an
Miguel Induráin
Eine dopinglose Zeit
Eine andere Zeit

        Atmen
        Lächeln
        Atmen

Meine Trittfrequenz habe ich längst gefunden
Meinen Rhythmus auch
Beethovens Fünfte
Der unausweichliche Beginn
Drei Tritte in die Pedalen
Langes Einatmen
Drei Pedalentritte
Langes Ausatmen
So geht das den gesamten Anstieg hinauf
Die zwei Komma neun Kilometer
Einhunderteinundzwanzig Meter Höhenunterschied

        Atmen
        Lächeln
        Atmen

Drei Pedalentritte
Einatmen
Drei Pedalentritte
Ausatmen

Die Grundstraße ist der Albtraum
Eines jeden Fahrradfahrers
Stadtauswärts hinauf
Stadteinwärts hinab
Beides ist prinzipiell gleich schlimm
Immerhin gibt es mittlerweile
Radfahrstreifen
An den Seiten
Straßengleich nur abgetrennt durch einen aufgemalten weißen Strich

Heute ist es vergleichsweise ruhig
Niemand schneidet mich
Keiner hupt mich an
Alle halten brav Abstand
Sogar beim Überholen

        Lächeln
        Atmen
        Lächeln

Vielleicht halten sie mich auch für verrückt
Außer mir fährt heute niemand die Grundstraße hinauf
Es ist kalt
Wind heult und bläst an jeder Kurve anders
Irgendwann fängt es an zu regnen

        Atmen
        Lächeln
        Atmen

Wieso eigentlich dieses Lächeln?
Miguel Induráin hat immer gelächelt
An jedem Anstieg
Lächelte er
Und blieb in seinem Sattel
Während andere in den Wiegetritt stiegen
Und an ihren Lenkern zerrten
Mit sichtbar knirschenden Zähnen

        Lächeln
        Atmen
        Lächeln

Er sah aristokratisch aus
Klar waren da Schmerzen
Doch wieso es den anderen zeigen?
Sie mürbe machen
Psychologische Kriegsführung

        Atmen
        Lächeln
        Atmen

Oder dachte er einfach an etwas schönes
Um den Schmerz zu vergessen
Um den Berg erträglicher zu machen?

        Lächeln
        Atmen
        Lächeln

Andere denken an Überheblichkeit
An Verrücktheit

        Lächeln
        Atmen
        Lächeln

Ich denke an Induráin
An längst vergangene Sommernachmittage zu Beginn der Neunziger
Beeindruckt vor dem Fernseher
Das ist Willensstärke!
Das ist Selbstbeherrschung!

        Lächeln
        Atmen
        Lächeln

Als ich den Gipfel der Grundstraße erreiche
Klingt auch etwas Beethoven nach
Wieder nur der unausweichliche Beginn
Erhabenes Gefühl
Glücklich darüber
Dass es so leicht war;
Wenn es schwer scheint
An etwas schönes denken

        Atmen
        Atmen
        Atmen

Der Pulsschlag beruhigt sich mit der Zeit
Während ich an der Ampel stehe
Und warte

        Atmen
        Lächeln
        Induráin
        Atmen
        Beethoven
        Lächeln
        Grundstraße
        Atmen
        Stadtauswärts
        Lächeln
        Atmen
        Lächeln

Ein wenig bleiben
Und dann wieder zurück.


        © Dominik Alexander / 2023

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