sententiae natalis

Die SENTENTIAE NATALIS sind Geburtstagsbilder, kleine Begebenheiten und Beobachtungen bei meiner Fahrradtour nach Pillnitz an meinem Geburtstag. Enthalten sind neun Sentenzen zu folgenden Themen: Alter • Teerhügel • Radrennfahrer • Schatten • MNS • Lordschaft • Blutbuche • Geräusch • Fliege

Blutbuche_Pillnitz_Gesamtansicht

I
Aufgepumpt hatte ich es bereits im Keller. Nun hatte ich mein Fahrrad draußen zwischen den Klopfstangen, die niemand mehr nutzt, auf seinen Sattel gestellt, um die Kette problemlos fetten zu können. Ich hetzte nicht, nahm mir Zeit. Als ich wieder zum Keller wollte, um das Öl zurückzubringen, sprach mich die alte Frau an, die ich bereits vor einigen Minuten zur Haustür habe hereingehen sehen. Ob ich ihr eventuell helfen könne, ihr Gepäckstück nach oben in den vierten Stock zu bringen. Sie entschuldigte sich, wollte keine Umstände machen. Sie hätte es so gern allein geschafft, doch es ging einfach nicht. Meinetwegen hätte sie sich nicht entschuldigen müssen. Ich half ihr gern. Doch es erinnerte mich an die Zukunft, an das, was uns allen irgendwann bevorsteht. Das Alter kommt schleichend. Irgendwann ist es da. Bevor man es sich versieht, muss man für Alltäglichkeiten um Hilfe bitten. Man muss warten und darauf hoffen, dass der Angesprochene ein netter Mensch ist und den kleinen Wunsch nicht ausschlägt. Kürzlich habe ich im Radio gehört, dass die Grundannahme der Menschen darin besteht, dass der Mensch ein egoistisches Wesen sei, durch und durch auf sich selbst bezogen und ausschließlich auf das eigene Wohl bedacht. Doch Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das nur in der Theorie, in der Vorstellung (die ja oft den Blick auf die Realität verschleiert) so sei, in der Praxis jedoch genau umgekehrt. Da würden wir uns gegenseitig helfen, uns Meinungen anderer Menschen anschließen, uns stark fühlen, wenn wir innerhalb einer großen Menge untergehen können. Der normale Mensch ist ein Mitläufer. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es die Alphatiere (Alphamenschen), die vorangehen; und schließlich Menschen wie mich, die vorangehen, für sich gehen, herausstehen, auffallen, aber meist nicht auffallen wollen – nur manchmal.

Blutbuche_Pillnitz_Gesamtansicht_unten

II
Der frisch aufgeworfene Teerhügel gleicht einem Maulwurfshaufen. Und ebenso wie der aus Erde ist der weitaus größere ausschließlich störend. Jedenfalls für Fahrradfahrer, wenn in der bereits warmen Morgensonne die schwarze Substanz aus der Ferne zärtlich glitzernd lockt, um nur Momente später den Fahrradreifen gierig anzuziehen. Ein hässlich klebriges Geräusch begleitet die rollende Überfahrt und hinterlässt die Gewissheit, dass der Teerhügel ein dauerhaftes Geschenk ist, also bleibt, auch jenseits der derzeit noch aktuellen Bauarbeiten. Der Teerhügel fungiert als Brücke zwischen Straße und Baustelle; der Radweg dazwischen wird geflissentlich ignoriert.

Blutbuche_Pillnitz_Fagus sylvatica

III
Als Radrennfahrer verkleidetes Jungmännerpaar, das mich überholt, danach weiter nebeneinander fährt, sich dabei unterhält und eine Karawane aus Personenkraftwagen hinter sich stauen lässt, weil die Straße schmal und kurvenreich ist.

Blutbuche_Pillnitz_Wurzeln

IV
Nur ein klein wenig Rast auf den Treppenstufen vor dem Bergpalais Pillnitz, nach dem Museumsbesuch, unter luftigem Schatten, um meine Gedanken zu ordnen. Der Schatten kriecht an meinem Bein herauf, als wollte er mir sagen: Steh endlich auf und geh weiter!

Blutbuche_Pillnitz_Klee_Shamrock

V
Alte Männer, die ihren Mund-Nasen-Schutz als Mund-Schutz begreifen und einen immer anschauen, als würden sie einen fressen wollen, wenn man sie darauf aufmerksam macht, dass sie es dann gleich bleiben lassen können oder generell; wenn man sie einfach nur anschaut.

Blutbuche_Pillnitz_Ast_Auge

VI
Die Seerosen beim Englischen Pavillon im Schlosspark zu Pillnitz saugen begierig am Nass im Teich. Hinter dem Pavillon sitzt in einem Refugium aus Schatten und Ruhe ein weiß geschminkter englischer Lord mit gelockter, grauer Langhaarperücke, in bunter Kleidungsmontur des 18. Jahrhunderts. Bei der Hitze! Eine kleine Pause nur zwischen zwei Touristengruppen, die auch bei der Hitze bespaßt werden wollen (oder müssen?). Endlich wieder bespaßt werden (müssen) nach dem Corona-Lockdown (der gar kein Lockdown gewesen ist). Seine Lordschaft sieht so aus, als hätte er nicht viel Spaß. Ich nicke ihm achtzehntesjahrhundertgemäß zu; er nickt achtzehntesjahrhundertgemäß zurück. Dabei sieht er so aus, als wüsste er, dass ich verstehe.

Blutbuche_Pillnitz_Baumkrone

VII
Die Schatten spendende Blutbuche ist mein Refugium an diesem Tag, an diesem Ort. Die Krone reicht bis zum Boden – eine Allegorie? Eine Allegorie! Wer zum mächtigen Stamm mit dem auslaufenden Wurzelwerk gelangt, wird eingehegt und beschützt; geschützt vor allem vor dem Wetter da draußen – außerhalb der Krone. Ich frage mich, wie es wohl sein wird, wenn die Menschheit einst ganz ohne Bäume wird auskommen müssen. Kein natürlicher Schatten mehr; kein behagliches Rauschen des Windes, der sich seine Wege durchs Laub wühlt. Keine Wälder mehr für die so nötige Stille, um zur Besinnung zu kommen.

Blutbuche_Pillnitz_Vorsicht_Bitte nicht auf die Äste setzen

VIII
Ist das gewünscht? Den Menschen besinnungslos zu halten? Aber nein; er wünscht es ja selbst, wenn er ohne permanente Beschallung um sich gar nicht mehr zu existieren vermag. Immer mehr Fahrradfahrer und Fußgänger (Zufußgehende) benutzen keine Kopfhörer mehr, wenn sie bei ihren Wegen außerhalb der eigenen vier Wände auf Musik nicht verzichten wollen / können. Stattdessen hören sie ungeniert laut das, was ihre Geräte so hergeben, nicht so, dass ausschließlich sie selbst es hören, sondern so, dass alle Menschen um sie etwas davon haben. Oder belästigt werden. Wahrscheinlich ist letzteres der Sinn, auch wenn beides grundsätzlich das gleiche ist.

Blutbuche_Pillnitz_Vorsicht_Bitte nicht auf den Ast setzen

IX
Das Wunder des Lebens erlischt am Brillenglas. Die heiße Augustluft trägt im gleichförmigen Zusammenspiel mit dem Fahrtwind des Radrenners ein fliegendes Wesen genannt Fliege (wie einfallsreich!) gegen die verglaste Sehhilfe. Sie hinterlässt einen klebrigen Streifen, der dem Radrenner zunächst gar nicht auffällt. Nur der Zusammenprall, die flüchtige Begegnung – physisch, potentiell tödlich (hoffentlich nicht!) – war gegenwärtig, doch die Spätfolgen erst am Abend deutlich, als die klebrige Spur sich nicht vom Sehhilfenglas entfernen ließ. Woher stammte sie nur? Was war da geschehen? Da kam plötzlich die Erinnerung zurück, an die Fliege, an das geflügelte Wesen, das im erhofften Vorbeiflug die Bahn falsch berechnet hatte und dem dahinrauschenden Hindernis nicht rechtzeitig auszuweichen vermochte.


        © Dominik Alexander / 2020

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