Im Oktober ist Trattenbach ganz still. Dann fährt man mit dem Bus ins Dorf hinein wie auf einen Friedhof. Man erkennt Gesichter hinter den Gardinen der wenigen Einfamilienhäuser an der einzigen Straße, die den Ort längsseits durchschneidet. Draußen jedoch ist kein Mensch. Immerhin: die Tür zur Kirche steht weit offen. Doch wer hätte in einem niederösterreichischen Dorf etwas anderes erwartet?
Dennoch braucht es keinen Einheimischen, der den Weg zum Wittgensteinpfad weist. Der Leser wird bereits vermuten: verlaufen kann man sich hier nicht. Von der Bushaltestelle (kündigen Sie Ihren Haltewunsch am besten vorher an) läuft man ein paar Schritte in Richtung Kirche. Dann den schmalen Pfad auf der linken Seite hinunter. Irgendwo dort steht auch ein Hinweisschild.
Wenige Schritte später wendet sich Wittgenstein zum ersten Mal an den Wanderer:
Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.
(6.4311)
Da muss man sich erst Mal setzen. Glücklicherweise steht neben dem grünen Schild mit weißer Schrift eine Bank. Wer von Wien anreist, sollte hier ohnehin innehalten. Die Reise in ländliche österreichische Gefilde ohne Bahnanschluss ist auch heute noch beschwerlich.
Am Beginn des Weges gleich der Todeshammer. Das schlägt nieder, macht klein, lässt aber Großes denken. Der Ursprung der Wittgenstein’schen Gedanken am Gedenkpfad im beschaulichen Trattenbach liegen inmitten der Hölle des Ersten Weltkriegs. Der Tod war dort stets unmittelbar; fühlbar; riechbar; schmeckbar. Doch nicht erlebbar. Denn das wäre ein Widerspruch.
Das Leben ist ein fortschreitender Zustand, während der Tod ein dauerhafter Zustand ist. Beide Zustände gehören zum menschlichen Sein und Nichtsein. Wer möchte, kann hier auch gerne an Erwin Schrödinger denken. Katzen habe ich allerdings in Trattenbach nicht gesehen. Vielleicht waren die aber auch nur hinter den Gesichtern hinter den Gardinen hinter den Fensterscheiben der Einfamilienhäuser versteckt.
Wir können nichts Unlogisches denken, weil wir sonst unlogisch denken müssten.
(3.03)
All diese Sätze sind selbstverständlich aus dem Zusammenhang gerissen. Die meisten entstammen dem Tractatus, einige wenige den Tagebüchern. Doch die Zeit, wahrscheinlich sogar das Jahr, ist allen Sätzen gleich. Denken wir also an den Krieg, an tagelanges, wochenlanges Ausharren im Schützengraben; in der Deckung; im Dreck; im Hunger; in der zunehmenden Abstumpfung.
Denken wir uns weiter in eine Gemeinschaft. Alle teilen das gleiche Leid, was es ein wenig leichter macht, das alles zu ertragen. Wir begreifen uns als Gemeinschaft, glauben, nein, wissen, dass gutes Handeln Gutes hervorbringen kann. Gut und Gut und Gut ergeben das Gute. Prämisse und Prämisse und Prämisse ergeben die Konklusion.
Logik in ihrer schnörkellosen Reinform. Es gibt nur Logik. Denn Logik ist wahr. Unlogik gibt es nicht. Denn Unlogik wäre falsch. Wenn wir uns an die Logik halten, gehen wir den geraden Pfad. Links und rechts von uns tobt der Krieg. Doch die Scheuklappen schützen uns vor den Einschlägen des Wahnsinns.
Die Tatsachen gehören aber nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung.
(6.4321)
Tatsachen sammeln wir am Wegesrand ein. Für Tatsachen muss der Mensch überhaupt erst einmal beginnen, sich in Gang zu setzen. Einen Weg gehen. Also von der Bank aufstehen und loslaufen. Selbstständig gehen. Die Bewegung spüren. Eindrücke mit Augen und Händen sammeln. Jeder Blick ein Eindruck; jede Reflexion eine Einprägung.
Was ist, kann nur aufgesammelt werden. Die Tatsache ist etwas, das ein anderer als ich verrichtet hat, zu einer anderen Zeit, gewöhnlich vor mir. Weil mir die Tatsache andernfalls keinen Eindruck machen kann.
Tatsachen liegen verstreut herum. Tatsachen sind: ausgehobene Erdhügel, leere Patronenhülsen, Meter um Meter ausgerollter Stacheldraht, Schreie, Gewehrsalven, Kanonendonner, Regen. Die Aufgabe: überleben. Die Lösung: die Tatsachen aufschreiben, um sie vergessen zu können.
Am Wittgensteinweg finden sich andere Tatsachen: jahrzehntealte Bäume, Kieselsteine, Herbstlaub, das in der warmen Herbstluft tanzt, Sägegeräusche vom Sägewerk aus dem Tal, reife Walderdbeeren, der Geruch von Pilzen, die man nicht sieht. Die Aufgabe hier: Wittgenstein finden. Die Lösung: die Tatsachen aufschreiben, um sie nicht zu vergessen.
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
(7)
Dieser Satz kann philosophisch verstanden werden, existentiell. Oder im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg.
In Trattenbach wirkt dieser Satz durch und durch philosophisch. Das Schild steht nicht rechts, am Abgrund, sondern links, beinahe in die Landschaft gehegt, angelehnt an den nicht gangbaren Abhang. Wer hier ist, wer diesen Weg geht, will gar nicht sprechen. Eindrücke prägen sich am besten in der Einsamkeit ein, ohne überhaupt nur ans Sprechen denken zu müssen. Doch davon ist in dem Satz nicht die Rede.
Es geht um das Vermögen zu sprechen, um die Fähigkeit, einen Sachverhalt, eine Tatsache in Worte fassen zu können. Eine Tatsache, einen Eindruck in Worten vermitteln, wofür Bilder fehlen. Wenn Eindrücke fehlen, gibt es keine Bilder. Fehlen Bilder, gibt es keine Worte. Fehlen Worte, bleibt der Sprache gar nichts anderes übrig als zu schweigen.
Das Unvermögen zu sprechen, kann aus dem Fehlen von Worten resultieren. Oder aus der Flut zu vieler Bilder. Hat sich Wittgenstein deshalb nach Trattenbach zurückgezogen? Von der Bilderflut aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs heraus, in die Bilderarmut der niederösterreichischen Idylle hinein?
Doch Idylle ist das falsche Wort. Idylle ist Schönheit, Gleichförmigkeit, Gelassenheit, Leichtigkeit. Nichts von alldem kann Wittgenstein zugeschrieben werden. Rau und karg, beschwerlich und einfach waren seine Vorstellungen vom Leben und Wirken im Feistritztal. Und wenn die Gedanken doch einmal überhand nahmen, waren die Gewitter über dem Semmering nicht fern.
Die Gesamtheit der Sätze ist die Sprache.
(4.001)
So, wie wir beim Gehen einen Schritt vor den anderen setzen, fügen wir Wort an Wort an Wort, wenn wir Sätze bilden. Sinnhafte Gefüge, aus dem Denken geboren. Aus einem Pool an gelernten Buchstabenfolgen, Bezeichnungen für Gegenstände, Tätigkeiten, Tatsachen, suchen wir uns ein paar Bausteine heraus. Mit vollen Händen greifen wir hinein, holen heraus, betrachten, werfen zurück, stellen um, lassen fallen. Seufzen. Und greifen erneut hinein.
Voller Lust und Liebe fügen wir hinzu, schöpfen selbst, bauen und errichten uns das Fundament, auf dem wir unser Haus der Sprache bauen.
Unsere Sprache ist unser Haus. Wir wollen uns wohlfühlen und suchen nur die Worte aus, mit denen wir bauen können, die haften bleiben, die zusammenhalten, die gut klingen und leicht von der Zunge rollen.
Jedes Wort nehmen wir immer wieder in den Mund, schmecken es, schlucken es herunter, würgen es erneut herauf und spucken es schließlich aus. Irgendwann fliegt es wieder heran. Dann nehmen wir es vorsichtig in uns auf, prüfen es erneut, stellen es zu den anderen Worten und beobachten, ob es sich noch mit den übrigen verträgt.
Jeder Mensch hat sein eigenes Haus; jeder Mensch hat seine eigene Sprache.
Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen.
(6.43)
Den schweren Sätzen zum Tod und zur Sprache kann der Spaziergänger nicht entfliehen. Die Umgebung ist wie ein Tunnel, in den er eintaucht wie in seine Gedanken. Es ist ein lichter Wald mit hohen Bäumen und buntem Laub. Tatsächlich kann von einem Idyll gesprochen werden, etwas, dem Wittgenstein doch eigentlich entfliehen wollte. War Schönheit für ihn etwas anderes? Hat er die Schönheit an diesem Pfad nicht gesehen?
Bis zu einem gewissen Grad kann die Landschaft eine Ruhe ausstrahlen, die bis zu den Gedanken wirkt. Doch wie jede Beschäftigung braucht auch das Denken (auch wenn es nur ein Nach-Denken ist), Weite für das Auge, Raum zum Atmen, Entspannung für den Träger der Gedanken, den Körper.
Gerade zum rechten Zeitpunkt, auf der höchsten Höhe des Wittgensteinwegs, öffnet sich endlich der Pfad. Die hohen Bäume treten zur Seite, zu Gunsten einer kreisrunden Lichtung mit der kleinen Markuskapelle und Sitzgelegenheiten. Seit 2017 steht hier auch die Mautner-Gedenkstele, zu Ehren der Eheleute Mautner, die sich um 1900 um Trattenbach in besonderem Maße verdient gemacht haben.
An diesem Ort des Gedenkens und des Religiösen hat das Nachdenken über Glück und Unglück eine ganz besondere Bedeutung. Glücklich ist, wer dem Glauben die Zweifel überlässt, wer loslassen kann im Religiösen. Glücklich kann aber auch sein, wer in der Gegenwart lebt und sich seine Träume nicht durch Ängste zerstören lässt. Glück ist stets subjektiv. Was für einen Menschen das größte Glück ist, kann für einen anderen das größte Unglück sein.
Glück ist Akzeptanz dessen, was ist und worauf der Einzelne keinen Einfluss hat; Unglück ist, sich der eigenen Begrenztheit nicht bewusst zu sein und von sich mehr zu denken, als man ist. Es ist also immer die selbe Welt, doch gleichzeitig ein individueller Standpunkt in dieser Welt.
Wie es nur eine logische Notwendigkeit gibt, so gibt es auch nur eine logische Unmöglichkeit.
(6.375)
Auch dieser Satz findet sich auf der kleinen Lichtung. Die Logik erhält hier Raum, den geöffneten Himmel über Trattenbach. Doch die Begrenzung ist noch immer da. Wir denken noch immer mit sichtbaren Schranken. Kleine Hürden bestimmen diesen Satz. Etwa: Wo liegt die Betonung, auf der Logik oder auf der Notwendigkeit respektive Unmöglichkeit?
Eines scheint klar zu sein: eine unlogische Notwendigkeit scheint es nicht zu geben, ebenso wenig wie eine unlogische Unmöglichkeit. Oder wäre das eine logische Möglichkeit? Keineswegs, denn eine logische Möglichkeit wäre eine Tautologie und damit unsinnig, obsolet. Wenn etwas möglich ist, ist es gleichzeitig logisch.
Tatsächlich ist in beiden Fällen das »Eine« betont, die eine Notwenigkeit; die eine Unmöglichkeit. Wenn etwas getan werden muss, dann gibt es nur einen logischen Weg. Wenn etwas nicht getan werden kann, gibt es nur ein logisches Argument, das eigene Nicht-Handeln schlüssig zu begründen.
In beidem steckt die Kunst der politischen Diplomatie und Regierungsfähigkeit.
Nur das Leben ist glücklich, welches auf die Annehmlichkeiten der Welt verzichten kann.
(13.8.1916)
Ein glückliches Leben. Wittgenstein formuliert das so, als wäre es der einzige Lebenssinn. Oder wenigstens das Ziel irdischer Existenz. Sich so weit einzuschränken, bestenfalls bedürfnisbefreit zu leben, sich alles zu versagen, was Freude bringt. Denn was anders meint er mit den Annehmlichkeiten der Welt?
Annehmlichkeiten. Etwas annehmen, also angeboten bekommen und es nicht ablehnen. Etwas als Eigentum akzeptieren, zunächst einmal ohne Gegenleistung. Darauf kann der glückliche Mensch verzichten, denn er braucht nichts. Nichts außer Schlaf und Nahrung. Den Körper am Leben erhalten und ihm Ruhe gönnen vom Nichtstun.
War Diogenes in seiner Tonne glücklich? Nun, er besaß nichts, außer seiner Tonne und die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut, die ihm eines Tages Alexander mit seinem Schatten nahm. Was er von ihm wünsche, soll Alexander ihn gefragt haben. Worauf der Mann aus Sinope geantwortet haben soll: »Geh mir nur ein wenig aus der Sonne.«
Der Mensch könnte in absoluter Bedürfnislosigkeit also durchaus glücklich sein. Denn wer nichts hat, dem kann nichts genommen werden. Andererseits darf er sich dann nicht in Gegenwart anderer Menschen aufhalten. Denn er würde nicht verstanden werden. Sich jedoch tagein, tagaus für die eigenen radikalen Entscheidungen rechtfertigen zu müssen, kann nicht glücklich machen.
Das einsiedlerische Leben also, ohne Kontakt zu anderen Menschen, mit kaum etwas als der eigenen Haut am Leib – ist das ein glückliches Leben? Es ist schon gut gewählt, dass das Schild mit gerade diesem Satz an einer Weggabelung aufgestellt ist.
Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.
(6.4311)
Das Menschheitsproblem Nummer Eins: Der Mensch (als Idee eo ipso) will ewig leben. Und weshalb? Weil er sich seines Selbst bewusst ist und als Individuum mit eigenen Bedürfnissen begreift. Alles soll immerzu weitergehen, damit er nicht verliert, was ihm (scheinbar) gehört.
Hier, auf dem Wittgensteinweg, wird das eigene Selbst auf eine geradezu metyphysische Weise unwichtig. Das Bewusstsein lebt im Augenblick. Es gibt keine Erinnerung, keine Träume, nur Wahrnehmung im Jetzt. Dieses Dasein ist behaglich, denn die eigene Welt ist plötzlich überschaubar, erstreckt sich nur bis zum Horizont, der im Wald nicht sehr weit entfernt liegt.
Angst gibt es nicht, denn auf diesem kleinen Flecken Erde gibt es nichts, wovor man sich fürchten müsste. Da ist stets nur Neugierde auf das, was sich hinter der nächsten Kurve verbirgt.
Der Wittgensteinweg in Trattenbach ist wie die Ewigkeit für einen Moment. Wer einmal ganz in sich geruht hat und dabei den an manische Hysterie grenzenden inneren Frieden spüren durfte, weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Zeit plötzlich stillzustehen scheint. Alle Empfindungen, Wahrnehmungen und Eindrücke strömen gleichzeitig ins Fleisch. Das ist die Ewigkeit.
Wer bewusst jeden Moment lebt, ohne sich mit der Vergangenheit zu belasten oder seine Gedanken mit unerfüllbaren Wünschen zu verschleiern, wird diese Ewigkeit täglich leben. Und am Ende wissen, dass unendliche Zeitdauer gar nicht erstrebenswert ist.
Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.
(6.44)
War der Anfang, wenn es ihn denn je gab, ein Glücksfall oder ein Unglücksfall? Ist Leben auf der Erde das eigentliche Chaos und im Vergleich zur sonstigen Welt die eine unscheinbare Variable, die übersehen wurde? Was ist überhaupt die Welt? Ist sie alles, was der Fall ist? Und alles, was nicht der Fall ist, sind ausschließlich zusätzliche Variablen, die der Mensch in die Welt hineinbringt?
Das Mystische ist das Geheimnisvolle, das im Dunkeln liegt, wenn der Mensch seinen Mund oder seine Augen verschließt. Es ist etwas verborgen – vor dem Menschen. Selbstverständlich immer nur im Bezug auf den Menschen. Denn er ist es, der all diese Fragen stellt.
Der Mensch sehnt sich nach einem Anfang und nach einem Ende. Er will Ordnung, wo es keine Ordnung gibt. Wenn es nach dem Menschen ginge, gäbe es keine Mystik. Doch die Mystik gibt es nur, weil es den Menschen gibt.
Die Welt, so wie sie ist, gibt es nur durch den Menschen, denn wir sind es, die darüber nachdenken, was ist. Wenn uns etwas verborgen ist, nennen wir es mystisch. Und das am meisten Mystische ist die menschliche Existenz; jedenfalls aus der Sicht des Menschen.
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Das wird sich der Mensch zeit seiner Existenz fragen. Denn die Antwort ist: Es gibt keinen Anfang; es gibt kein Ende. Doch das ist für den Menschen inakzeptabel. Ordnung im Chaos. Der Mensch in seiner winzigen, zeitlich wie räumlich begrenzten Welt will das schaffen, wofür die Welt nicht geschaffen ist.
Wie die Welt ist, ist reine Physik. Sie würde auch ohne den Menschen existieren. Teilchen, die aufeinander einwirken und Kräfte erzeugen, Kettenreaktionen generieren, Chaos schaffen.
Dass die Welt ist, ist das Nach-Denken des Menschen. Woher kommt der Mensch? Weshalb kam er überhaupt? Das ist das Mystische – jedenfalls für den Menschen.
Was geht mich die Geschichte an? Meine Welt ist die erste und einzige! Ich will berichten, wie ich die Welt vorfand. Ich habe die Welt zu beurteilen, die Dinge zu messen.
(2.9.1916)
Auch dieses Schild am Wittgensteinweg steht an einem Scheideweg. In zweierlei oder gar dreierlei Hinsicht, wenn man die örtlichen Verhältnisse weit fasst. Von der Höhe der Lichtung sind wir durch dunklen Wald hinabgestiegen, treten hier gerade wieder heraus in die umhegte Helligkeit, die noch nicht zu grell scheint, um zu blenden, sondern Dinge nur andeutet, auf sie vage aufmerksam macht.
Linkerhand führt der Scheideweg zum Angerler-Hof. Zu Wittgensteins Zeit zwischen 1920 und 1922 hat er hier bei der sogenannten Traht-Bäuerin Milch geholt oder eine Mahlzeit zu sich genommen. Dieser Weg führt in die Vergangenheit und ist daher nicht der Weg des Wanderers, der heute vor dem Schild steht.
Rechterhand setzt sich der Wittgensteinweg fort, doch hier muss zunächst eine Grenze überwunden werden. Ein Holztor dient als physische Trennung zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich der Tiere, in das der Mensch sich begeben muss, will er den Pfad weitergehen.
Wittgenstein hat das philosophische Ich vom menschlichen Körper getrennt. Das Physische ist das Tierische, während der Geist sich über den Körper erhebt. Im Handeln unterscheidet sich der Mensch nicht vom Tier. Dieser Gedanke ist verständlich, versetzt man sich in den Wittgenstein, der in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nicht nur dessen Gräuel mitansehen, sondern zudem daran aktiv teilnehmen musste.
Ja, er hatte sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Doch von etwas hören und daran beteiligt sein, sind zwei grundlegend unterschiedliche Dinge. An ersterem ist ausschließlich der Geist beteiligt, das philosophische Ich, das sich über den Körper erhebt, ihn beurteilt. An letzterem ist der Körper beteiligt, der den Geist zur Teilnahme zwingt.
Wenn wir die Tür zum Tierischen aufstoßen, begeben wir uns in die Welt des Körpers. Und plötzlich liegt die gesamte Welt vor unseren Füßen. Der Blick öffnet sich, schaut in die Weite und erkennt keinen Horizont mehr.
Beschreiben, was ist. Das eigene Erleben und Handeln darlegen ohne Rechtfertigung. Es jedoch beurteilen im Verhältnis zur Welt, von dem das philosophische Ich ein Teil ist. Dabei: Handlungen beurteilen ausschließlich im Zusammenhang und Vergleich mit Handlungen anderer einer miteinander geteilten Zeit.
Beurteilungen eigener Handlungen im Vergleich mit Handlungen aus anderen Zeiten, aus der Geschichte, sind irrelevant, weil sie stets anderen Voraussetzungen, Gegebenheiten und Konsequenzen unterworfen sind und daher nicht miteinander verglichen werden können.
Die Welt und das Leben sind Eins.
(5.621)
Bei diesem Schild mit diesem Satz stehen wir etwa auf halber Höhe des Pfades. Genau dort ist es, wo wir ein Stück vom Weg abgehen können, uns hinaus begeben in die Welt. Sie ist nur, weil wir sind. Das können wir uns hier bewusst sein lassen.
Das sanft hügelige Grün vor unseren Augen, hier und da ein herbstlich belaubter Baum, in der Ferne blass-blaue Hügelketten, die wie gewollt mit dem blass-blauen Himmel am Horizont verschwimmen. Wir schauen in uns hinein und erkennen, dass wir diesen Anblick schön finden. Weil wir glücklich sind. Weil uns hier nichts ängstigt. Weil wir zwar die Weite der Welt sehen, aber wissen, dass wir dazugehören.
Das ist unsere Welt. Das ist unser Leben. Hier ist das philosophische Ich, das beides aus bestimmter Entfernung betrachtet und zusammendenkt. Wie Hügelkette und Himmel in der Ferne zu einem Ganzen werden, verschmilzt unser Leben mit der Welt. Aber nur, wenn wir uns auf sie einlassen, wenn wir uns in ihr und mit ihr fortbewegen,wenn wir über sie nachdenken, sie lieben, über sie lachen, den Ernst der Lage erkennen, ihn ernst nehmen, aber nicht zu wichtig.
Die Welt und das Leben sind Eins, wenn wir gesetzte Grenzen akzeptieren und danach handeln. Die Welt hört auf zu sein, wenn wir nicht mehr sind.
Gott ist es wichtig zu sagen [Gewiß ist es richtig zu sagen]: Das Gewissen ist die Stimme Gottes.
(8.7.1916)
Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet das dreizehnte Schild einen verfälschten Inhalt trägt. Weder hat sich Wittgenstein angemaßt, zu wissen, was Gott wichtig sei, noch würde Gott selbst von sich in der dritten Person sprechen (soweit wir wissen).
Das richtige Zitat entstammt den Tagebüchern; der korrekte erste Teilsatz ist in eckigen Klammern angegeben. Im Sinne Wittgensteins ist Gott keine metaphysische Entität, sondern mehr eine wirkende Kraft, die jedem Lebewesen innewohnt oder besser: über jedem Lebewesen steht und darüber wacht.
Drehen wir die Aussage des zweiten Teilsatzes einmal um: Die Stimme Gottes ist das Gewissen ist das philosophische Ich, wie man ergänzen kann. Das Gewissen kann als Sammlung aller Erfahrungen eines Lebewesens betrachtet werden. Der Mensch ruft es an, wenn er sich vor einer Entscheidung nicht sicher ist. Er wägt ab, nicht zwischen Gut oder Böse (denn beides gibt es nicht), sondern zwischen dem, was ihn glücklich oder unglücklich macht.
Wer etwas weiß, hat etwas getan und wurde mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert. Er hat erfahren, was geschieht, wenn er etwas tut. Das ist die Erfahrung.
Wenn nun die Erfahrung aus eigenem Handeln mit der Reflexion darüber zusammenkommt, tritt das Gewissen zu Tage. Das philosophische Ich bremst das Handeln, hält den Körper in Schach und macht dem Menschen klar, ob ihn Glück oder Unglück erwartet. Je nach Stärke des Ich hat ein Mensch mal mehr, mal weniger Kraft dazu, sich für sein eigenes Glück zu entscheiden.
Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.
(6.51)
Es kann schon einmal passieren, dass dem Wanderer auf dem kurzen Wegstück über das von Almkühen beweidete Land eines dieser Tiere begegnet. Wer sich dessen bewusst ist, beginnt sich vielleicht zu fragen. Sich, weil dort üblicherweise niemand sonst anwesend ist. Der Wittgensteinweg wird beinahe ausschließlich in der ersten Augustwoche bewandert, in der Zeit des Wittgenstein-Symposiums im nur wenige Kilometer entfernten Kirchberg am Wechsel.
Doch im Oktober ist hier kein anderer Mensch. Wer sich oder anderen eine Frage stellt, erwartet eine Antwort. So banal, wie sich das liest, ist es nicht. Denn das Schild mit diesem Satz befindet sich bereits wieder jenseits der tierischen Welt.
Hier herrscht erneut das philosophische Ich, das darüber Zweifel hegt, ob es sinnvoll gewesen ist, sich gerade eben dieser Gefahr ausgesetzt zu haben, ungeschützt einer wildgewordenen Kuh zu begegnen.
Wir stellen Fragen, wenn wir über etwas unsicher sind. Vielleicht, weil wir auf einem Gebiet kaum Erfahrungen gemacht haben oder weil uns ein Ding oder Sachverhalt noch nicht begegnet ist. Oder weil wir etwas getan haben, das wir von uns bisher nicht kannten.
Zweifel, dieser Zustand zwischen Glück und Unglück; nicht zu wissen, wo man gerade steht. Deshalb fragen wir, um den Zweifel aufzulösen – im Wasser als Antwort. Die Antwort als Lösung.
Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.
(3.1)
Bis hierher ging es Schlag auf Schlag, und, wie für dieses Gebiet recht charakteristisch, wechselhaft. Ein Satz kurz nach dem anderen. Wer nicht etwas innehält, wird pausenlos von immer neuen Gedanken durchflutet. Doch bis zum vorletzten Satz des Wittgensteinwegs kehrt endlich etwas Ruhe ein. Ein wenig Zeit zur Reflexion, am besten am Weber-Marterl, einer Gedenkstele zu Ehren der Weberinnen, die hier im selben Jahr 1916, in dem Ludwig Wittgenstein an seinem Tractatus schrieb, etwa einhundert Meter der Mautnerstraße über den Berg bauten.
Das Marterl ist in einer Art Haarnadelkurve aufgestellt, mit etwas mehr Freifläche im Umkreis. Kurze Zeit später schließt sich der Wald erneut über dem Kopf des Wanderers. Die Gedanken stehen wieder im Zentrum der erfahrbaren Welt.
Wenn wir Gedanke und Satz getrennt voneinander betrachten – und das müssen wir, weil es zwei völlig unterschiedliche Dinge sind – stellt sich als erstes die Frage: verwenden beide das gleiche Vokabular? Denken wir tatsächlich in den gleichen Worten, die wir später aufschreiben, lesen und hören?
Schaue ich jetzt aus meinem Fenster, sehe ich ein Gebilde mit glatten, vertikalen Wänden, worin sich Aussparungen befinden, um die Sonne hineinzulassen. Abends gehen dort Menschen hinein, morgens wieder heraus. Wenn ich dieses Gebilde sehe, entsteht in meinem Geist zunächst eine Wolke aus Attributen zu Formen, Farben, Material, Struktur, Bewegung, Licht, Schatten und vielem mehr. Wenn ich einem Freund von meinem Eindruck erzählen möchte, wähle ich zunächst einen Begriff, der all diese Attribute in unterschiedlichen Möglichkeiten zusammenfasst, in diesem Fall: Haus.
Nun hat jeder Mensch, aufgrund eigener Anschauung und Gedanken darüber, unterschiedliche Vorstellungen von einem Haus. Ich muss also näher beschreiben. Dafür kann ich auf meine Attributwolke zurückgreifen, um das Haus erfahrbarer zu machen für den, der kein direktes Bild davon vor Augen hat.
Doch mit jeder noch so detaillierten Sprache kann nie genau das gesagt oder beschrieben werden, was ich in meiner eigenen Attributwolke davon versammelt habe. Ich könnte beispielsweise meinen Freund das Haus so zeichnen lassen, wie er es sich nach meinen Erzählungen vorstellt.
Was also Gedanke und Satz miteinander gemein haben, ist, dass sie beide nicht die Realität abbilden. Der Satz ist ein verschriftlichter Gedanke, der vom Denkenden reflektiert und vom Leser oder Hörer nachvollzogen werden kann. Im Stillen vorausgesetzt ist allerdings, dass Gedanke und Satz im Sinn miteinander übereinstimmen.
Wer anders als der Denkende selbst kann schon überprüfen, ob das Gedachte mit dem übereinstimmt, was da als Satz auf dem Papier steht? Ja, der Satz ist sinnlich wahrnehmbar. Ich kann ihn berühren; er kann mich berühren; ich kann ihn lesen; jemand kann den von mir gelesenen Satz hören; ein Sprecher kann den Satz beim Sprechen schmecken und fühlen.
Doch drücken Gedanke und Satz das gleiche aus? Sind sie in der gleichen Sprache formuliert? Das kann weder nachvollzogen noch geprüft werden. Hier steht Aussage gegen Gedanke.
Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.
(6.4311)
Mit diesem Satz entlässt uns Wittgenstein von seinem Weg zurück in die Welt. Der Satz trägt eine Aussage, vergleichbar mit dem offenen Ende eines dramatischen Films. Nichts ist geklärt, man will wissen, wie es weitergeht, aber da läuft bereits der Abspann und der Mensch bleibt ratlos und unbefriedigt zurück.
Oder ist der Satz im übertragenen Sinne ironisch gemeint? Viele Interpreten Wittgensteins, Zeitgenossen wie Nachgeborene, konstatierten, der Mann hätte keinen Humor gehabt. Vielmehr scheint es mir so zu sein, dass seine Interpreten Wittgensteins Humor einfach nicht verstanden haben. Das ist ja bei Ironie und Satire gewöhnlich so. Je schwärzer der Humor ist, umso weniger ist der Deutschmuttersprachler bereit, sich darauf einzulassen.
Der Deutsche oder Österreicher liebt klare Strukturen. Mit augenzwinkerndem, hintergründigem Humor kann er nichts anfangen. Wittgensteins Philosophie ist auf den ersten Blick nüchtern und oberflächlich darauf aus, klare Regeln für die zwischenmenschliche Kommunikation zu finden. Das würde Ironie direkt ausschließen.
Dem entgegen steht in diesem Satz, dass unser Gesichtsfeld gerade nicht grenzenlos ist. Anders als Vögel, Insekten oder Amphibien muss der Mensch seinen Kopf bewegen, um zu sehen, was sich in seinem Rücken befindet. Das Gesichtsfeld des Menschen ist eingeschränkt. Gleiches gilt für das menschliche Leben. Stirbt der Mensch, hat seine irdische Existenz aufgehört zu sein.
Man könnte einwenden: Vielleicht betrachtet Wittgenstein das Leben bezogen auf die religiöse Existenz, das unendliche Leben der gläubigen menschlichen Seele. Doch was machen wir dann mit dem tatsächlich eingeschränkten menschlichen Gesichtsfeld? Oder meint Wittgenstein das metaphorisch?
Verkürzungen, im Gegensatz zu lang ausschweifenden Ausführungen, laden zu stets umfangreicheren Interpretationen ein, als vom Verfasser erstrebt. Man könnte meinen, es sei genau umgekehrt, doch es sind gerade die unterschiedlichen Erfahrungen jedes einzelnen Menschen von den allgemeinen Begriffen, die formelhafte Traktate wie die Wittgenstein’schen zu etwas Mystischem machen.
Der Leser meint, das meiste sei verborgen, weil der Mensch mit prägnanter Kürze nichts anfangen kann und sofort Verschwörungen wittert, wenn es nur wenige Informationen gibt. Zu sehr hat sich der Mensch daran gewöhnt, dass Menschen viel reden, aber nichts sagen. Insbesondere in einer Zeit, in der jeder Mensch sich immer individueller geriert und hinter jedem Begriff eine eigene Welt vermutet.
Nein, ich denke, Wittgenstein hatte durchaus Humor. Einen etwas eigenen, vielleicht. Aber vor allem einen hintergründigen, der ab und zu zwischen den präzisen Sätzen durchscheint. Man darf nur nicht zu schnell lesen, sondern muss jedes Wort wirken lassen – wie beim Gehen auf dem Wittgensteinweg in Trattenbach.
Selbstverständlich können Sie den Wittgensteinweg auch vom Ende her gehen. Doch dann ergeben die Schilder und ihre darauf zu lesenden Sätze einen ganz anderen Sinn.
© Dominik Alexander / 2020