In vielen Online-Ausgaben von Zeitschriften und Zeitungen sehen wir sie. Wenn Pocket etwas empfiehlt, bekommt der Leser diese Information ungefragt mit dazu. Bevor sich jemand für einen Podcast entscheidet, checkt er noch ein bestimmtes Kriterium ab. Es geht um die Zeitangabe. Wie lange benötige ich, um diesen Text zu lesen? Wie viel meiner wertvollen Lebenszeit wird mir jene Podcast-Folge rauben? Das hat etwas mit Berechenbarkeit zu tun. Aber auch mit unbewusster Manipulation. Hier ein paar Gedanken dazu.
Wenn ich kurz im Gedächtnis krame, war es wahrscheinlich in der Onlineausgabe der ZEIT, wo mir das Phänomen ursprünglich begegnet ist. Über irgendeine Clickbait-Überschrift bin ich auf der Artikelseite gelandet, wo spätestens nach dem Teaser (in dem im Grunde bereits alle wichtigen Informationen verbaut sind) eine kurze Information zur Lesedauer des gesamten Artikels erscheint. Da jede meiner Kolumne 666 aus 666 Wörtern besteht, habe ich das mal mit dem Share-Link von LinkedIn getestet.
Und siehe da: Die Lesedauer für diese Kolumne beträgt drei Minuten. Offenbar liest der Durchschnittsleser pro Minute 235 Wörter (jede Kolumne enthält noch einen ergänzenden letzten Absatz zur Erklärung mit meist ähnlichem Wortlaut), also knapp vier Wörter pro Sekunde. Das klingt realistisch. Oder ist das schon so wie bei Google Maps, wo der Algorithmus auch mit der Zeit (no pun intended!) lernt, wie schnell ich mit meinem Fahrrad unterwegs bin und mir auf meine Anfragen beinahe sekündlich vorhersagen kann, wie lange ich für eine Wegstrecke benötige?
Ökonomisch strukturierte Onlinetexte
Kürzlich gab Gruner + Jahr resp. RTL Deutschland bekannt, dass demnächst die Fortführung von über zwanzig Sparten-Zeitschriften eingestellt werden soll. Weniger Zeitschriften an Kiosk und Bahnhof oder im Supermarkt, na und? Der Trend geht doch ohnehin zum Online-Medium. Und dort zur stets kostenfrei verfügbaren Information, zusammengestaucht auf das wichtigste in aller Kürze. So ist der Leser schnell informiert. Und wird doch mal etwas hinter der Paywall versteckt, hat man mit der meist plakativen Überschrift ohnehin schon den gröbsten Inhalt der Nachricht erfasst.
Beinahe jeder Onlinetext ist wie ein Pressetext aufgebaut: das wichtigste, die Nachricht, steht oben; danach folgen unwichtige Details; zum Schluss vielleicht noch etwas zu Quellen und Hintergründen. Wen interessiert das in unserer schnelllebigen Social Media-Welt? Um Schlagzeilen geht es, darum, wer sich am imposantesten kurzfassen kann, um Halbwissen, damit jeder überall ungefragt seinen Senf dazugibt. Vor allem aber geht es ums Verkaufen. Idealerweise wird ein Onlineartikel bei Twitter, Facebook und Co. geteilt, gelikt, kommentiert. Wer dann auf einen dieser Links klickt und direkt unter der Überschrift liest, dass ihn die Lektüre nur zwei Minuten kostet, bleibt.
Es dauert gar nicht lange, aber
Wenn du erst mal angefangen hast zu lesen, dann nehmen wir dich jedoch länger in Beschlag als dir lieb ist. Denn die angezeigte Lesezeit bezieht sich selbstverständlich nur auf die ablenkungsfreie Lektüre des Artikeltextes. Im Internet ablenkungsfrei einen Text lesen? Wo geht das denn? Genau: nirgends! Bis zum Teaser mag es werbefrei abgehen, doch danach kommt der Hammer oder besser: ein Schwarm Hammerhaie. Hier ein Link mit Clickbait-Titel zu einem ähnlichen Thema; dort ein Video, das sich von selbst abspielt; hier ein blinkender Werbebanner; dort ein Bildstörer zum Webshop oder zum Chat, der sich unaufgefordert von rechts ins Sichtfeld schiebt. Und über all die Emotionen triggernden Überschrift-Bild-Teaser, die sich am Bodensatz des Artikels drängeln, soll gar kein Wort verloren werden.
Es dauert gar nicht lange. Innerhalb von zwei Minuten kannst du die neueste politische Debatte erfassen; in zwölf Minuten fasst dir Blinkist ein ganzes Buch zusammen. Die Welt wird immer schneller und kleinteiliger. Selbstoptimierung, ADHS und Lerndefizite nehmen zu. In zehn Jahren werden Wissenschaftler darin einen überraschenden Zusammenhang erkennen. Gedruckte Zeitschriften funktionieren werbefrei. Die längeren Artikel muss man selbst lesen und sich länger als fünf Minuten konzentrieren. Vor allem aber ist unberechenbar, wer sich mit einer großformatigen Zeitschrift aufs Sofa setzt, gemütlich einen Tee trinkt und für länger als eine Stunde in ansprechend anspruchsvollen Texten versinkt. Hier blinkt kein Werbebanner auf; hier springt kein Chatfenster auf. Eine ganze Stunde lesen? Das machst du online auch, wirst dabei jedoch ökonomisch missbraucht und digital verblödet.
© Dominik Alexander / 2023
Kolumne 666 besteht aus eben so vielen Worten. Dabei werden zwei Themen miteinander verwoben, die vordergründig kaum etwas miteinander zu tun haben. Ein Thema ist aus dem Pool an Schlagzeilen der vergangenen letzten Tage entnommen; das andere Thema entstammt meiner eigenen Biographie. Kolumne 666 ist ein serienhafter Kommentar zum Zeitgeschehen und soll zum Nachdenken mit anschließender Diskussion anregen; entweder hier oder im eigenen Bekanntenkreis.