Lesen und schreiben sind andere Welten

Wenn ich einen fremden Text lese, versinke ich in eine andere Welt. Wenn ich einen fremden Text schreibe, tauche ich in eine Welt hinein und schreibe auf, was ich dort greifen kann.

Lesen und schreiben gehören zusammen. Doch gleichzeitig lesen und schreiben kann ich nicht. Dabei geht es nicht um das Offensichtliche. Es geht nicht darum, beides nicht gleichzeitig tun zu können. Es geht darum, dass ich in einer bestimmten Zeit entweder nur lesen oder nur schreiben kann.

Ich kann nicht gleichzeitig parallel in zwei Welten existieren. In einer Welt bin ich entweder ganz oder gar nicht.

Zum lesen brauche ich ein Buch, aber nicht unbedingt Ruhe. Die Welt liegt eingebettet zwischen den Seiten, wartet geduldig darauf, dass ich ihr den Raum gebe, den sie braucht, um sich zu entfalten. Die zu lesende Welt ist ins Buch ausgelagert. Buchstaben erzeugen vor meinen Augen eine Welt, die ich nur noch zusammensetzen muss.

Zum schreiben brauche ich meinen Kopf und Ruhe, möglichst eine ruhige Umgebung dazu. Dabei sind Ruhe und Ruhe unterschiedliche Zustände. Der eine betrifft die Ohren, der andere die Augen. Zum schreiben brauche ich beide. Denn die Welt ist noch nicht ausgelagert; sie ist eingelagert in meinem Kopf, braucht Raum, um sich zu entfalten. Das kann sie nicht in Häuserschluchten, in verwinkelten Cafés, in einer anmutigen Bibliothek.

Je größer meine Kopfwelt, umso mehr Raum muss ich ihr geben. Ideal sind die Weite des Himmels über mir; ein großzügiger Garten, eine Wüste um mich herum. Weit weg ist der Horizont. Am besten verschmilzt er mit dem Grün einer Wiese oder dem Gold der Wüste. Die Augen haben nichts zum Festhalten; die Gedanken können sich grenzenlos entfalten.

Weshalb sage ich, dass ich fremde Welten aus meinem Kopf schreibe? Weil mir mein Kopf – auch nach all den Jahren mit ihm – noch immer ein Rätsel ist. Eines, das ich nie lösen werde. Das aber Tag um Tag eine jeweils neue Welt gebiert.


        © Dominik Alexander / 2023

2 Comments Add yours

  1. Und wieder ein großartiger Text!! Natürlich könnte ich nicht umhin, zu reflektieren, wie es bei mir mit Betrachten andere Leute Malerei und meinem Malen selbst bestellt ist. Fast 1:1, nur dass ich mich am besten entfalten kann, wenn ich im “kleinen Kaemmerlein” male. Und dann taucht die Frage auf, wann und warum ist das so gekommen? Und was Deine rhethorische (?) Frage wegen des Kopfes betrifft, habe ich schon lange aufgehört, darüber nachzudenken. Sie scheint mir auch nicht mehr zielführend, da das kreative Momentum in Ruhe gelassen werden sollte, um sich entfalten zu können. Ist aber beim Schreiben sicher anders.

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    1. Was den Kopf betrifft, war das positiv gemeint, nicht so, wie es wohl bei Dir angekommen ist. Zuweilen wäre es gut, nicht so viel im Kopf zu haben, denn so viel kann ich gar nicht schreiben, wie da drin ist. Andererseits bezog sich der spezifische Satz darauf, dass mir so die Schreibwelten nie versiegen, mich der Kopf also nie besiegen kann oder ich ihn, weil wir so in beständigem Austausch etwas schaffen können, das bleibt.

      Was Dein kleines Kämmerlein betrifft, mag das auch fürs Malen besser sein. Immerhin können dort Wind, Regen und Sonne Deinem Papier nichts anhaben. Es ist wohl eine dritte Art von Ruhe, die Du dort findest.

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