Gefährt in allen Lebenslagen

Und auf den Schwingen dieser Tage steht
Ein goldner Mond mit seinem Schatten —

Hinter jedem Fenster hängt der einzelne Mensch seinem Leben nach
Er freut sich an Müßiggang und an Gedankenlosigkeiten —

Das Frühjahr mahnt mit tosendem Entzücken
Lasst überbrücken nun, was uns am Leben hält — *


* Manchmal habe ich einen Einfall, vielleicht den Beginn eines Gedichts, vielleicht nur diese wenigen Zeilen, ohne dass ein Gedicht folgt. So wie die vorigen drei Zweizeiler. Sie sind Beginn und Ende. Nichts folgt darauf. Zuweilen aus Zeitmangel, weil es nur eine flüchtige Idee war, der Drang, sie aufzuschreiben, aber nicht weiterzuverfolgen. Aufschreiben ist ja meist der Drang, etwas aus sich herauszuschreiben, das nicht innen, also im Verborgenen bleiben soll. Wenn Worte aus dem Fleisch herausgeschrieben sind, fühlt sich der restliche Mensch leichter an. Etwas ist zu Ende, ist vollbracht, ist geschafft, zu Ende gebracht. Das fühlt sich gut an. Und wenn das bereits nach zwei Zeilen geschehen ist, dann ist es auch gut. Die folgenden zwei Zeilen wollten eine Fortsetzung und haben eine bekommen. Gestern. Im Laufe meines Besuchs bei meinen Eltern am Ostersonntag.


Wie schnell die Zeit fortschreitet, wenn man es eilig hat
Wenn man lange nicht gereist ist
Lange nur geblieben an einem Ort

Ich will fort
An diesem Morgen
Denke nach
Was könnte ich vergessen haben?

Es sind nur wenige Stunden
Doch sitze ich im Zug
Kreisen meine Gedanken
Um mein Rad
Das ich am Bahnhof zurücklassen musste
Hab ihm sein blaues Häubchen auf den Sattel gesetzt
Aus Sentimentalität vielleicht
Aus Vermenschlichung zum Ding
Aus Eigensinn
Denn regnen soll’s heut’ nicht

Zuvor noch hat es mich im Slalom
Im gleißend hellen Morgensonnenlicht
Um weggeworfene Dynamoplastikbecher gebracht
War gestern ein Spiel?
Oder heute Morgen?
So viele Leute in ihren schwarzgelben Fananzügen kommen mir entgegen
Schwankend
Starrend
Mich an
Einen Schritt vor den anderen
Bis auf die Straße
Muss sie in meinen Slalom einbeziehen

Mein Rad beschwert sich nicht
Begibt sich am Bahnhof mit mir auf die Suche
Geduldig
Doch findet wie ich keinen Parkplatz
Dort, wo es jetzt steht
Ist eine Notlösung
Ein wenig erhaben
Gar nicht mehr am Bahnhof
Jenseits davon
Vielleicht hat es dort ein wenig Frieden
Vor Dynamohorden
Betrunkenen
Randalierern

Der Hauptbahnhof ist nicht der Neustädter
Doch er entwickelt sich dahin

Auf meiner Rückfahrt
Verstecke ich mich hinter einer schwarzen Maske
Fühle ich mich sicherer?
Erhabener?
Besser?
Durch Corona habe ich mich daran gewöhnt
Die Maske ist ein Teil von mir
Vielleicht nur ein Placebo
Doch wenn ich mich gut damit fühle?
Kann daran nichts falsches sein

Was heute meine Gesichtsmaske ist
Ist für mein Fahrrad die Sattelhaube
Hoffentlich steht es noch
Wo ich es abgestellt habe

In B. steigen seltsame Typen zu
Ein Polizeiazubi zu mir in meine Vierergruppe
Schräg gegenüber ein Stasityp
Jenseits der achtzig
Langer hellbrauner Mantel
Dunkelbrauner Hut
Getönte Brille
Spitzer Mund

Weiter hinten eine Rockband ohne Instrumente
Männer mit wallendem Haar
Eine sitzende Frau weicht ihm aus
Als sie sich entkleiden

Plötzlich riecht es nach Orangen
Es ist abends um sechs
Abendbrotzeit
Natürlich
Wir sitzen und stehen alle in einem Zug
Aber das bedeutet nicht
Dass wir von unseren deutschen Gewohnheiten abweichen

Vorhin auf dem Bahnsteig
War die Luft zum Scheiden
Brandgeruch von gestern
Hat sich in den Talkessel gelegt

Mittlerweile hält ein hessischer Zuginsasse eine Rede
Vortrag über das Dritte Reich
Die SPD habe Hitler ermöglicht
Seinem Tonfall kann ich nicht entnehmen
Meint er das gut oder schlecht
Heute kriegen die Ausgeschiedenen Posten in der Wirtschaft
Protitieren alle von der Krise
Alle korrupt
Und kompetent bin nur ich
Muss den Ossis im Regionalzug mal erzählen
Wie der Hase hier läuft
Und der Fuchs
Und wo sich beide Gute Nacht sagen
Nicht verzagen
Den Wessi fragen
Er wird nach seiner Fahrkarte befragt
Soll seinen Ausweis dazu zeigen
Findet ihn nicht

Der Polizeiazubi hat rasierte Hände
Blank wie ein Babypopo bis zum Handgelenk
Wahrscheinlich lassen sich so Tapes schmerzfrei entfernen
Oder hat das was mit Klebstoff zu tun?
Ich frage ihn nicht

Während der Hesse nun über Max Weber doziert
Er sieht aus wie Ede Geyer
Deshalb hört ihm wahrscheinlich auch jemand zu
Jetzt fällt auch noch der Name Trump
Natürlich
Liest er am Ende die Bild-Zeitung vor?

Wen interessiert’s?
Fragt der Hesse
Als wir in den Neustädter einfahren
Läuft ein Pudel durch den Gang
Herrchen im Schlepptau
Der Hesse babbelt unentwegt weiter
Er wird bis zum bitteren Ende mit mir fahren
Gesegnet sei der Bahn-Gott

Draußen steht die Abendsonne noch über den Dächern
Doch auch hier steht die Luft
Der Rauch wird ausgeatmet
Aus vielen Dutzend Kehlen
Gewusel um mein Rad herum
Trotzdem muss ich lächeln
Denn es trägt noch sein blaues Häubchen
Ich lasse mir sogar Zeit dabei
Meine Fahrradtasche behutsam
Auf seinen Gepäckträger zu heben
Schließlich fahre ich noch ein wenig Slalom
Diesmal jedoch aus selbstgewählter Freude
Denn ich bin dem Rauch entkommen
Der Meute

Auch meinem Rad geht es gut
Ich weiß es
Ich spüre es
Mein Gefährt in allen Lebenslagen.


        © Dominik Alexander / 2023

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