Weihnachtswunder geschehen, wenn man auf sie wartet. Schon der kleinste Funke Hoffnung kann ein Weihnachtswunder sein. Dieses Weihnachtswunder ereignete sich an Heiligabend 2021, noch immer inmitten der Corona-Pandemie, in der Länderbahn trilex zwischen Neukirch (Lausitz) West und Neukirch (Lausitz) Ost.
Wer in einem Zug sitzt, ist in Bewegung, ohne sich selbst zu bewegen. Es gibt ein Ziel, das es zu erreichen gilt. Doch zum Erreichen selbst trägt der Mensch, der sich aussetzt, nichts bei. Er steigt in einen Zug; die Türen schließen sich; der Zug fährt los, hält ab und zu und ist das Ziel erreicht, steigt der Mensch aus. Man setzt sich hin und setzt sich aus. Das ist die Quintessenz einer Zugreise. Welches Weihnachtswunder kann man hier schon erwarten?
Am 24. Dezember 2021 begab es sich nun aber, dass der Zug auf meiner Fahrt von Dresden Hauptbahnhof nach Neukirch (Lausitz) Ost sein Ziel nicht erreichte. Ich saß auf meinem Platz am Fenster in einer Vierergruppe. Mir schräg gegenüber saß eine junge Frau. Weder sie noch die anderen Mitreisenden oder gar die Landschaft, die am Fenster vorbeiflog, nahm ich bewusst war. Denn ich schrieb eine Weihnachtsepisode für den Adventskalender meines Arbeitgebers. Ich war etwas ins Hintertreffen geraten und musste den noch fertig bekommen. Für so etwas waren Zugfahrten immer gut geeignet.
Ein Baum auf der Strecke beendete die Fahrt
Üblicherweise mache ich mich langsam für das Aussteigen fertig, wenn der Zug am Bahnhof Neukirch (Lausitz) West vorbeigefahren ist. Doch ich war ins Schreiben vertieft und konnte im ersten Moment nicht sagen, ob wir den Bahnhof bereits passiert hatten, als der Zug plötzlich bremste und gleichzeitig Äste eines Baumes mit meinem Fenster Kontakt aufnahmen. Instinktiv hatte ich mit der linken Hand meinen Rucksack festgehalten, damit er durch die Bremswirkung nicht vom Platz rutscht. Gleichzeitig hatte ich nach draußen geschaut, um mit allen Sinnen zu erfassen, was sich gerade abspielte.
Nach wenigen Sekunden stand der Zug und gleichermaßen nichtssagende wie vielsagende Stille trat ein. Der Zug war mit etwa neunzig Personen vollbesetzt. Jeder von ihnen versuchte im ersten Moment für sich zu ergründen, was passiert war. Schnell war klar, dass es allen gut ging. Niemand schrie. Der Zug stand noch immer im Gleis. Kein Feuer. Kein Gestank. Die Ruhe vor dem Sturm?
Das Weihnachtswunder entfaltet sich
Nein; das Gegenteil war der Fall. Langsam hob ein unbestimmtes leises Bienenstockgrummeln an. Auch ich initiierte ein Gespräch mit der jungen Frau, die mir gegenüber saß, fragte sie, wo ihr Ziel sei. Sie wolle nach Wilthen. Wir mutmaßten, was passiert sei und was nun folgen würde. Vielleicht könnte uns der Zug der Gegenrichtung nach Bischofswerda zurückschieben. Oder besser: Der nachfolgende Zug bis Neukirch (Lausitz) Ost oder sogar Wilthen.
Wir scherzten sogar: Früher hätte man eine Rangierlok von Wilthen schicken können. Die Fahrdienstleiter von Neukirch (Lausitz) West und Neukirch (Lausitz) Ost hätten sich mit dem Lokführer besprochen. Eine Fahrt auf Befehl wäre möglich gewesen. Doch das war alles früher. Heute sitzt der nächste Fahrdienstleiter auf dem ESTW in Leipzig. Schließlich outete ich mich als ehemaligen Fahrdienstleiter mit Praxiserfahrung von zwei Wochen Führerstandsmitfahrt. Leider würde das nicht reichen, den Lokführer zu ersetzen.
Es gibt Hoffnung für die Zeit nach der Pandemie
Denn während wir auf Feuerwehr und Krankenwagen warteten, stellte sich heraus, dass die Frontscheibe des vorderen Triebfahrzeugs komplett zerstört war. Es bestand also keine Sicht mehr. Der Lokführer hatte sich am Kopf verletzt und kam später zur Behandlung ins Krankenhaus. Mit fortschreitender Zeit mehrten sich die Fragen an die Zugbegleiterin, ob einzelne Personen den Zug in Eigenverantwortung verlassen dürften. Irgendwann sollte jemand abgeholt werden.
Da schloss ich mich an und verließ den Zug. Doch nicht, ohne der jungen Frau und weiteren Passagieren in unserer Nachbarschaft ein schönes Weihnachtsfest gewünscht zu haben. Viele, auch ich, hatten mit Angehörigen telefoniert und ihre Weiterreise organisiert. Was in Dresden eine anonyme Masse mit Masken gewesen war, fühlte sich nun fast familiär an. Trotz gegenseitigen unterschwelligen Argwohns in dieser Zeit der Pandemie ist in kurzer Zeit ein Grundvertrauen entstanden, das auf der Basis der Sprache möglich war.
© Dominik Alexander / 2022
Kolumne 666 besteht aus eben so vielen Worten. Dabei werden zwei Themen miteinander verwoben, die vordergründig kaum etwas miteinander zu tun haben. Ein Thema ist aus dem Pool an Schlagzeilen der vergangenen letzten Tage entnommen; das andere Thema entstammt meiner eigenen Biographie. Kolumne 666 ist ein serienhafter Kommentar zum Zeitgeschehen und soll zum Nachdenken mit anschließender Diskussion anregen; entweder hier oder im eigenen Bekanntenkreis.
Vielen Dank an RocciPix für die Erlaubnis, die Bilder vom Ort des Geschehens hier veröffentlichen zu dürfen. Im Überschwang meines Fluchtantriebs hatte ich es leider versäumt, selbst zu fotografieren.
